24. August

24. August 2009 |

Ein samtgrüner Ohrensessel. Ein Glas Rosé. Keine Musik. 21.06 Uhr. Draußen brabbelt eine Abendgemeinde über zurück gegebene SPD-Parteibücher und homöopathische Heilmethoden. Es ist windstill überm See. Die Beine tun mir weh. Die Füße brennen. Fünf Stunden, gut 2000 Höhenmeter. Muss furchtbar ausgesehen haben am Ende. Neun Seiten schaff ich heute noch. Morgen komm ich dann in die Reihe. Und von da an jeden Tag, eigentlich jede Nacht, 16 Seiten. 100 Tage, 1600 Seiten lang. So lang hab ich noch nie an einem Buch gelesen. Eigentlich peinlich. Hab mich bewusst von allem ferngehalten, was leicht fiel, hier am See. Keinen Vorbericht gelesen, das schöne Materialbuch vergessen, die Rezensionen auch. Unvoreingenommen lesen, unvorgebildet. Spontan. Nur noch Krümel im Kopf von der letzten Foster-Wallace-Lektüre. Keine Ahnung, ob das geht. Und ob das was bringt. Hundert Tage im „Unendlichen Spaß“. Der liegt jetzt als Blätterstapel kniebankhoch neben dem Sessel. Muss das portionieren, sonst werde ich depressiv.
Gab schon langweiligere erste neun Seiten (kann sich noch jemand an den Einstieg der „Korrekturen“ erinnern? Genau!). Rätselhafte Titelei immerhin. „Jahr des Glad-Müllsacks“. Ein stolzer Müllsack. Nun gut. Ein junger Mann, augenscheinlich ein mittleres Tennisgenie, sozusagen Andre Agassi in hyperintelligent, sitzt einer Prüfungskommission gegenüber, die entscheiden soll, ob Harold „Hal“ Incandenza zur Tennisacademy zugelassen werden soll. Problem ist, dass Hal furchterregend intelligente Essays geschrieben hat mit Titeln wie „Die Implikationen von Post-Fournier-Transformationen für ein holographisches mimetisches Kino“ und „Ein Mann, der argwöhnte, er sei aus Glas“. Aber so recht glaubt ihm das keiner. Weil er leider subnormal kommuniziere, heißt es. Was man glaubt, ist, dass Onkel und Tante nachgeholfen haben. Man wittert Betrug. Und Hal sitzt da, kreuzt die Finger, beobachtet alles wie unter einem Mikroskop und versucht den richtigen Gesichtsausdruck zum richtigen Moment zu machen. Gelingt ihm aber nicht. Das liest sich flüssig, das ist sogar lustig ist es auch. Ein junger Mensch allein unter Bürokraten. Mit einem erschütternden Wortschatz. Potenziell, das ahnt man jetzt schon, weiß der alles. Hal, die allwissende Müllhalde, sieht Menschen „in der Defäkationshaltung aller ruhenden Sportler sitzen“. Und Sätze fallen ihm beständig ein wie: „Das Kohlesäureschweigen im Raum hat eine feindselige Note angenommen.“ Ein bisschen Angst bekomm ich schon. Zu kluge Literatur kann über 1600 Seiten ziemlich enervierend sein.

Elmar Krekeler studierte Musikwissenschaft in Mainz. Seine journalistische Laufbahn begann er als Musikkritiker, wechselte dann zur Literatur und arbeitete als Redakteur für die Tageszeitung “DIE WELT“. 1998 war er Mitbegründer der samstäglichen Beilage “DIE LITERARISCHE WELT“ und seit 2001 ist er ihr Leiter. Elmar Krekeler erhielt 2004 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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