Erste Eindrücke

11. September 2009 |

Komme mitten aus Bolaños 2666 in den Wallace rein, anders gesagt: aus so psychedelischen Nachtbildern und Dunkelpanoramen, die ein mythisches Scheinflimmern auf der Netzhaut hinterlassen (eine absolute Götterdämmerung eigentlich) in eine Art, wie soll ich sagen: technizistisch instrumentiertes Hyperrealismus-Patchwork von Morgen. (Keine Ahnung, ob die Begriffe stimmen). Jetzt, so auf den ersten 70 Seiten, geht’s mir jedenfalls ein bisschen wie Alban Nikolai Herbst: Da ist eine grenzenlose Bewunderung für den Sprachfuror des Autors einerseits, und andererseits eine gewisse Restdistanz zum Text selbst. Minimal – vermutlich aufgrund der Bolaño-Lektüre – vermisse ich Erhabenheit in US. Also das Aufglimmen einer elementaren Wahrheit zwischen den Zeilen, einer allenfalls erahnbaren, niemals ganz explizierbaren aber völlig substanziellen Wahrheit über die Verfasstheit des Menschen an sich. Die einen emotional mit Wucht ergreift und das Unfassbare spüren lässt. Was für ein vermessener und irgendwie auch anachronistischer Anspruch freilich! Umso vermessener, da ich selbst ja im allereinfältigsten Abbildrealismus Geschichten erzähle. Andererseits: Da US in der Underworld-, Gravity’s Rainbow- und so weiter Liga spielt, kommen die Vergleiche eben daher.
Überdies überwiegt ohnehin Bewunderung. Zum Niederknien beispielsweise: Wallaces Ideen. Der Typ, der im Sinne eines System-Shutdowns 200 Gramm Gras in 4 Tagen wegrauchen will und auf die Frau wartet, die ihm den Stoff vorbeibringen soll. Das ist absolute Spitze. Extrem komisch, eindringlich, am Rande tragisch auch. Überhaupt der Humor: So einen anarchischen, wild wuchernden Humor habe ich in der Breite lange nicht mehr gelesen. Manchmal – mit Blick auf Wallace oder auch Pynchon – scheint mir, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur bringe einen solchen Humor grundsätzlich nicht hervor. Als würde uns hier die erzählerische Freiheit fehlen (die einem solchen Humor vorausgeht), als wären die Synapsen der anglo-amerikanischen Großmeister irgendwie anders geschaltet. Assoziativer oder rock’n’rolliger vielleicht. Freue mich jedenfalls sehr auf die weitere Lektüre dieser zwar sperrigen, aber extrem grandiosen Unterhaltungspatrone.

Thomas Klupp, geboren 1977 in Erlangen, arbeitete nach seinem Zivildienst als Kameraassistent beim Regionalsender Oberpfalz TV in Amberg. Von 1999 bis 2001 war er an der Freien Universität Berlin in Theaterwissenschaft und Publizistik eingeschrieben. Im Anschluss daran hat er Kreatives Schreiben und Kulturwissenschaften an der Universität Hildesheim studiert und war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift BELLA triste. Thomas Klupp lebt in Berlin und Hildesheim und ist am Hildesheimer Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. 2009 erschien sein Debut-Roman Paradiso im Berlin Verlag.

1 Kommentar zu Erste Eindrücke

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Clemens Setz

13. September, 2009 um 17:34

@ Thomas Klupp
„Als würde uns hier die erzählerische Freiheit fehlen…“
Na ja, das würde ich bezweifeln. Es hat wohl bei uns auch damit zu tun, dass die meisten deutschen Verleger und Lektoren schreiend davonlaufen oder gleich den Sicherheitsdienst rufen würden, wenn ein Autor ein 1500 Seiten starkes Manuskript anschleppen würde.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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