An allen Laternen hängt die Direktkandidatin der CDU, die hier Angela Merkel heißt und zurechtgephotoshopt wurde, als würde sie die Wahl im Second Life gewinnen wollen. Mehr Kandidaten scheint es nicht zu geben an der Küste Nordvorpommerns, an die ich die eineinhalb Kilo Unendlichen Spaß mitgenommen habe, um endlich die magische 500 zu überschreiten. 14 Tage bin ich nicht zum Lesen gekommen, sieht man mal von der Seite vor dem Einschlafen ab. Dann aber packte mich das Eschaton-Spiel und ich las es gleich zweimal, um bei den Regeln durchzusteigen, komplizierter als jede Seitenabseitsregelung im Fußball, während zur selben Zeit kleine Staaten in der UNO-Vollversammlung Chrustschows Schuhperformance toppen wollten.
Drei Tage später stehe ich am frühen Nachmittag mit R. und G. am verrosteten Geländer des Fußballplatzes von Wustrow und schaue dem Spiel Wustrow/Darss Kickers gegen SV Stoltenhagen zu. Ich muss googeln, wo Stoltenhagen liegt (68,1 km, 13 Stunden Fußweg vom Fischland entfernt bei Grimmen). Die Stoltenhagener sehen in ihren orangen Trikots sexier aus als die Wustrower Fischköppe in Blau-Weiß, dabei haben letztere wegen ihrer Küstenlage doch dreißigmal höhere Grundstückspreise als die vorpommerschen Landeier. Deren Sponsor allerdings ist Opel, weswegen mich auch angesichts der Farbe des Trikots die leise Ahnung beschleicht, sie könnten von der Partei der Direktkandidatin gesponsert sein. (Naja, bei näherem Hinsehen ist es nur das örtliche Opel-Autohaus, dank Abwrackprämie hats wohl für neue Trikots gereicht.) Die Blau-Weißen müssen mit dem Textildiscounter Kik vorliebnehmen, denen man Stasimethoden und Ausbeutung der Mitarbeiter nachsagt.
Der Schiedsrichter schiebt einen mächtigen Bauch (umgerechnet 8. Monat) vor sich her, weswegen es mit dem Bewegen nicht gut klappt und er von den 90 Minuten vielleicht sieben wirklich rennt und meistens hinterher. Deshalb rufen ihm die Zuschauer (so viele wie Spieler) immer zu, wenn vorne ein Stürmer der gegnerischen Mannschaft im Abseits steht.
Der Trainer der Heimmannschaft ist 60 von 90 Minuten damit beschäftigt, die teuren Fußbälle aus den Brombeer- und Brennesselbüschen zu holen, die zahlreich ins Aus geschlagen werden, wahrscheinlich, um in der Zeit zu verpusten.
Für echte Fischköppe sind die Spieler sehr gesprächig, jedenfalls die orangenen. Ihre Spieler heißen Mutti, Auge und Ossi. Auge ist immer Mode bei dem etwas untersetzten Spieler der Nr. 6, der in der Verteidigung rumkrepelt und Kapitän und Trainer in einem zu sein scheint. Anders als der Schiedsrichter versucht er, das Spiel im Griff zu behalten und erinnert damit ein wenig an Otis P. Lord, nur ohne Servierwagen und Computeranalyse. „Leute, Leute“, ruft er unablässig über den Platz, stets mit einem leichten Nölen in der Stimme.
In der ersten Halbzeit geht es gesittet zu wie bei einem normalen Eschaton-Spiel. Einige schlagen ganz gute Lobs auf die Torraumlinie, aber erst nach 20 Minuten geht der erste Schuss aufs orange Tor, wo der Torwart von der Sonne geblendet wird. Zwei Orange deuten eine Händelei mit einem der Blau-Weißen an. Der Torwart schreit: „Kommt doch mal runter.“ – „Ossi raus“, schreit einer laut und die Zuschauer brüllen: „Du bist ja ne Pfeife.“ Es ist nicht ganz klar, ob sie den Schiedsrichter meinen, dessen Bauch gerade heranwabbelt. Er verwarnt, ohne eine der berühmten Karten zu zeigen, die hier nicht umdekoriert werden.
Ein Schuss der Orangen donnert mit großer Wucht auf den Parkplatz hinter dem Tor und um ein Haar hätte der Sponsor einen neuen Opel rausrücken müssen.
Man könnte sich das Spielfeld gut als Eschaton-Feld vorstellen, hier war ja die Erde auch 100 Jahre länger eine Scheibe als anderswo. Ein Wunder überhaupt, dass der Sportplatz noch nicht verkauft, parzelliert und mit mecklenburgischen Reetdachhäusern aus Vollplaste zugeschissen ist.
Hinter dem gegnerischen Tor sitzt seit Spielbeginn ein Mann im Trainingsanzug und trinkt unter direkter Sonneneinstrahlung ein Bier nach dem anderen. Er scheint mir ein Direktkandidat für die AA zu sein. Seine Biographie wird sich nicht besonders von der im Gaudeamus-Igitur-2-Kapitel unterscheiden, einschließlich der körperlichen Auswirkungen, von der das häufige Wasserabschlagen in den Brombeerbüschen noch das harmloseste ist. Es ist ja auch erst halb drei. Die Schmerzen kommen später, wenn Lidl zu ist.
Auch in der zweiten Halbzeit bleibt der blau-weiße Torwart ist sehr langsam. „Ist ja auch Wochenende“, sagt R. und spielt ein übertrieben langsam mit dem Ball, der ihm zugeflogen ist, ehe er ihn den Spielern zurückgibt. In Berlin hätte er dafür wenigstens verbal etwas in die Fresse gekriegt.
Der nächste geht wieder ins Brombeergebüsch und der Trainer spricht im Vorbeigehen leise, so dass es niemand der Spieler hören kann: „Nicht nachlassen, Leute.“ Da steht es 1:0 für die Hiesigen. Michi von den Orangen schießt drei Ecken, die dreimal vom Kickers-Torwart gehalten werden. Der Trainer von Blau-Weiß muss danach über einen Zaun steigen, um den Ball zu holen, was der Grundstücksbesitzer nicht so gut findet„Hör auf zu heulen“, meckert der Trainer.“ – “Ich kann auf meinem Grundstück soviel heulen, wie ich will.“ Aber weil es Vorpommern ist, eskaliert hier keine Situation und keiner muss ein rotes Käppi aufsetzen und den Ausnahmezustand ausrufen. Die Blau-Weißen geraten immer mehr in die Defensive und versuchen es mit Foulen. „Ihr könnt doch nicht alle wegrennen“, schreit der Kapitän der Kickers, aber Einsdreifix sind sie im Rückstand. „Spielen, spielen, spielen“, ruft die orange 6. Kaum hat man das notiert, geht sie schon kaputt und liegt auf dem Rasen, der hier noch echt und voller Gänseblümchen ist. „Haltet die Klappe, meine Fresse“, „Müller nach vorn“, Auge kriegt eine gelbe Karte fürs Meckern. „Der hat doch gar nichts gesagt“, brüllen die Zuschauer. Die Blau-Weiße 8 humpelt nur noch. Der Trainer ist schon wieder in den Brombeeren. Orange schießt Tor um Tor.
Am Ende verliert die Heimmannschaft 1:4, die Netze werden von den Toren entfernt, der Trinker torkelt in Richtung Lidl. Zuletzt trägt der Trainer fast feierlich einen weißen Plastestuhl, der die ganze Zeit hinter dem Südtor gestanden hat (so einen, der überall auf der Welt und bei allem mitspielen muss, ganz sicher gibt es die auch in der E.T.A.), quer übers Spielfeld auf die andere Seite. Es scheint irgendwie ein Ritual zu sein. Dann versinkt der Sportplatz in Stille, nur das Meer ist ganz leise zu hören.

PS: Einen Tag später: Vor dem Wahllokal in Ahrenshoop:
„Na haste Guido gewählt?“ – „Bin ich blöde? Und du?“ – „Na hallo, für wen hältst du mich?“
Schöner 27. September (Thomas Brasch) im Jahr des flüsterleisen Elektro-Opel

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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