Es gibt genreetablierende erste Sätze wie „Captain Johnson verließ als erster das Raumschiff“ (Philip K. Dick) oder „Treddleford hatte es sich in einem Armsessel vor dem heimeligen Kaminfeuer bequem gemacht, mit einem Gedichtband in der Hand und in dem wohligen Bewußtsein, daß draußen ein beharrlicher Dauerregen gegen die Fenster des Clubs prasselte.“ (Saki) Und es gibt figurenetablierende erste Sätze. Das „Jim, doch nicht so, Jim“ des alten Incandenza ist so ein Satz. Unter all den furchterregenden Vaterfiguren, die „Unendlicher Spaß“ bevölkern, ist der Großvater von Orin, Mario und Hal, der seine Enkelsöhne immer in die Dornen schmiss, für mich der furchterregendste. Das „Jim, doch nicht so, Jim“ durchdröhnt den Roman wie ein Gong und hallt noch in Pemulis’ Warnung nach „Trau nie dem Vater, den du sehen kannst.“ (S. 1535 – und Pemulis und sein Bruder haben alle Gründe, Vätern mißtrauisch zu begegnen; vgl. S. 980 ff.) Jedes Fünkchen Zärtlichkeit ist diesem Mann fremd, und Erziehung verwechselt er mit einem Schraubstock.

9 Kommentare zu Jim, doch nicht so, Jim. (S. 224)

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sinedi

7. September, 2009 um 13:39

Ja – auch für mich waren diese fast 20 Seiten „Jim – doch nicht so, Jim“ das bisher größte Stück Literatur (bin aber auch erst bei Seite 266 angelangt – aber nicht weil sich das schlecht lesen lässt – nee das klappt gut – man muss nur so oft innehalten – und gedanklich nachkommen … – ich jedenfalls …).
Besonders toll gelungen ist die immer stärker werdende Wirkung des bernsteinfarbenen „Flachmann“-Inhalts herausgearbeitet in Wort, Wortauslassung, hicks und Syntax – oder wie das heißt.

Und wie er das rote Auto seinem Sohn mindestens gleichwertig materiell gegenüberstellt.

Ganz toll gemacht.

Aber auch hier – auf der einen Seite „seltsam“ abstoßend in seiner Fremdheit – diese Passage – auf der anderen Seite ebenso „seltsam“ bekannt – so mit dem Kick – das kenne ich doch irgendwo her …

Und dann frage ich mich bei dieser zweiten Möglichkeit: kommt das aus meinem Unbewussten, aus einem „früheren Leben“, ist das irgendwie eine archetypische Pädagogik aus der Antike, in mir seit altersher verankert, seit Urzeiten und spült immer wieder hoch – kulturbedingt…?

Wie ging es Ihnen bei der Übersetzung? Sprach da der kleine Mann im Ohr – oder die Dictionary???

Und dann kommt zumeist die bitterernste Erkenntnis: Nee, so ähnlich hat man uns auch erziehen wollen (ich bin Jahrgang 1947…) in unserem guten alten Middle-Europe – mit Appellen – väterlicherseits, mütterlicherseits, schulischerseits, lehrmeisterseits, beruflicherseits, staatlicherseits, militärischerseits …

Erst unsere kleine 68-er Kulturrevolution war auch ein Aufbegehren gegen diese Art von Bevormundung („Unter den Talaren der muff von tausend Jahren…“). Und dabei bleibe ich, obwohl es ja mittlerweile „chic“ ist, Kübel über die 68-er auszugießen – wie immer vor Wahlen …

Aber nun frage ich mich: Habe ich Horror erlebt? Wollten die mich damals abrichten, wie einen Hund? Oder waren auch sie nur Kinder ihrer Zeit – und WUSSTEN ES NICHT BESSER …

Heute schweigen viele und wollen dem „freien Spiel der Kräfte“ nicht zuvorkommen… – aber meist ist es das Schweigen, was eigentlich brüllt…

Und der Schrei nach Hinweisschildern wird immert größer, denn auch die hat man mangels Kenntnis und Korrosionsprozess – sprich: Rost – abgeschraubt – so muss man sich wenigstens auch nicht mehr entscheiden… – wofür auch – wohin denn … ???

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ulrich blumenbach

7. September, 2009 um 15:46

Meine Überlegungen beim Übersetzen waren – deformation professionelle halt – weniger erziehungs- als sprachbezogen: Die Beschreibung des Flachmanns durch James Incandenzas Vater / Hals Großvater im Jahr 1960 (US 230f.) und – wenn ich wieder einmal vorgreifen darf – James’ eigene Erinnerung an die Entdeckung eines Grundprinzips der Annularfusion im Jahr 1963 (US 709 ff.), in der sich JOI als Mann entpuppt, der eigentlich nicht schreiben oder sich zumindest nicht auf das Wesentliche beschränken kann, habe ich als Stilübungen der anderen Art verstanden, nicht exotisierend / ornamentierend / faszinierend, sondern als graue, schmutzige Stilverweigerung – und als Selbstparodie: Der Detailfetischismus im Monolog des Grandpère spiegelt auch den von Wallace, und JOIs Präzisionsfrenesie ist die Inversvariante von Wallace’ gletschergleichem Beschreibungstempo.

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ulrich blumenbach

7. September, 2009 um 16:23

Noch eine Nachbemerkung, liebe/r sinedi: Doch, ein kleines bißchen habe auch ich an Erziehung gedacht oder zumindest daran, wie Charaktereigenschaften bei Wallace von den Vätern auf die Söhne weiterwandern: Die Gefühllosigkeit des Grandpère taucht als James Incandenzas unüberbrückbare Distanz gegenüber seinen Söhnen wieder auf (hierzu gehört nicht nur die Szene beim Konversationalisten, sondern auch Bemerkungen wie diese, die für die drei Brüder in Bezug auf ihren Vater schon das Intimste der Gefühle sind: „Zu den frühesten Erinnerungen von Orin, Mario und Hal gehört es, am Esstisch einzunicken und von einem hünenhaften Mann behutsam ins Bett getragen zu werden“, US 276). Und auch Hals Eindruck, seit frühester Kindheit keine richtigen Gefühle mehr empfunden zu haben, würde ich in diesem Zusammenhang sehen. Für mich ist das Wallace’ Variante von Philip Larkins Zeilen

They fuck you up, your mum and dad.
They may not mean to, but they do.
They fill you with the faults they had
And add some extra, just for you.

(Verkorkst wirst du von Mum und Dad.
Sie woll’n es nicht und tun es doch.
Sie pflanzen ihre Macken fort,
ergänzt um neue, nur für dich.)

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Clemens Setz

7. September, 2009 um 18:11

Lieber Herr Blumenbach,
vermutlich haben Sie eh schon genug Lob für Ihre Übersetzung gehört, aber ich muss Ihnen sagen, dass sich das Kapitel in der Stimme von J. O. Incandenzas Vater beim lauten Lesen in einen derart ungeheuren und furchteinflößenden Monolog verwandelt, wie es mir beim ersten Lesen vor ca. einem Jahr im Original gar nicht aufgefallen ist. Dieser unheimliche Refrain Du-bist-ein-Körper, Ich-und-mein-Körper etc. hallt einem noch den ganzen Tag im Ohr.
Ich lese im Augenblick das ganze Buch laut vor (ein Tick von mir, wenn ich ein Buch ein zweites Mal lese; zeitaufwändig, aber lustig…), manche Kapitel sind dafür weniger gut geeignet und man stottert und stolpert über die vielen Abkürzungen und Akronyme, aber besonders die Passagen, die in irgendeinem Idiom geschrieben sind (z.B. die Episoden aus der Sicht von Clenette oder „yrstruly“), swingen wunderbar beim lauten Lesen.
Mit lieben Grüßen,
Clemens Setz

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Stephan Bender

8. September, 2009 um 19:15

@ Ulrich blumenbach

Ich glaube, ich habe einen Fehler entdeckt. Der Satz…

„Hal Incandenza sah sich lange Zeit als lexikalisches Wunderkind, das – Avrils Bemühungen zum Trotz, ihren drei Söhnen ins Stammbuch zu schreiben, die Unvoreingenommenheit ihrer Liebe und ihres Stolzes hinge keinesfalls von Leistungen, Erfolgen oder potentiellen Talent ab – seine Mutter mit Stolz erfüllt hatte, und als einen echt guten Tennisspieler.“ (S. 222)

… ergibt keinen Sinn. Kann es sein, dass der Satz so….

„Hal Incandenza sah sich lange Zeit als lexikalisches Wunderkind, das – … – seine Mutter mit Stolz erfüllt hatte, und d i e s m e h r als einen echt guten Tennisspieler.“

heißen muss oder müsste oder sollte oder könnte? Oder so….?

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Mark Z.

8. September, 2009 um 21:34

Oder so:
Hal Incandenza sah sich lange Zeit als lexikalisches Wunderkind, […] und als als einen echt guten Tennisspieler.

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ulrich blumenbach

8. September, 2009 um 21:56

Mark Z. hat recht: Wenn man die ganzen eingeschobenen Nebensätze weglässt, bleibt als Hauptsatz übrig „Hal Incandenza sah sich lange Zeit als lexikalisches Wunderkind und als einen echt guten Tennisspieler.“ Er weiß einfach, dass er beides gut kann. Falls es weiterhilft, hier der englische Wortlaut: „Hal Incandenza for a long time identified himself as a lexical prodigy who — though Avril had taken pains to let all three of her children know that her nonjudgmental love and pride depended in no way on achievement or performance or potential talent — had made his mother proud, plus a really good tennis player.“

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Stephan Bender

8. September, 2009 um 23:10

Mhm. Eine so selbstbewusste Doppelhochbegabung mit Einschiebesätzen hat man auch nicht oft… :-)

Also:

–> Hal Incandenza sah sich lange Zeit als lexikalisches Wunderkind, [ A ] und als einen echt guten Tennisspieler.

A:. … das [B] seine Mutter mit Stolz erfüllt hatte…

B: … – Avrils Bemühungen zum Trotz, ihren drei Söhnen ins Stammbuch zu schreiben, die Unvoreingenommenheit ihrer Liebe und ihres Stolzes hinge keinesfalls von Leistungen, Erfolgen oder potentiellen Talent ab – …

Woran erinnert mich das bloß? An das Programmieren: Ein Hauptprogramm mit zwei ineinanderverschachtelteten Subalgoritmen.

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Jan Thomas

3. Oktober, 2009 um 15:16

Interessant ist zudem, dass April zur „echt guten Tennisspielerin“ wird, wenn man im englischen Original das letzte Komma weglässt. Ist schon verrückt, dass Wallace‘ Sprache in solchen Grenzbereichen wirklich mit der Metapher des „Programmierens“ verwechselt werden kann.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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