Joyce 2

14. September 2009 |

Vielleicht hab’ ich’s ja mit den Vaterfiguren (und wahrscheinlich kann mir ein psychoanalytisch vorgebildeter Mensch noch einen anständigen Komplex unterjubeln), aber das auf Joelle gemünzte „[Sie] wusste heute, dass sie sich nie wieder wie in jener Schlange behütet fühlen würde“ (US 342) ist der für mich vielleicht zärtlichste Satz des ganzen Buchs. Joelle erinnert sich unmittelbar vor dem goldenen Schuss an die Kinogänge mit ihrem Daddy, was mich wiederum an Anna Livia Plurabelles Schlußmonolog in „Finnegans Wake“ erinnert: „Carry me along, taddy, like you done through the toy fair!“ („Nimm mich mit, Taddy, wie einst über den Tandmarkt!“) Auch dort wird im Sterben der Vater evoziert.

10 Kommentare zu Joyce 2

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Alban Nikolai Herbst

14. September, 2009 um 08:15

@Ulrich Blumenbach.
Auch ohne PA völlig nachvollziehbar. Das ist für mich ein seltsames Erleben: daß mir Ihre und vor allem >>>> Krekelers Beiträge so sehr viel näher sind als das Buch selbst und ich den Eindruck gewinne, ich läse es durch Ihre Lesarten „besser“, ja überhaupt als dann, wenn ich’s tatsächlich lese. – Komischer Rezeptionsprozeß.
Zu Joyce: Allein im inneren Ohr k l i n g t Carry me along, taddy, like you done through the toy fair, geschweige denn wenn man’s laut liest, während das Wallace-Zitat nach Noten wirkt, die so auf den Se/aiten festbacken, daß der Ton gar nicht erst freikommt… liegt hier auch an dem ungelenken deutschen Konfunktiv mit „würde“, zumal in der Ding-Verstärkung durch „jene“. Haben Sie mal den US-englichen Satz für mich? Ich hab das Original nicht. (Joyce: bewußt kompomierte t-Alliteration; siehe dazu, Ihnen wird das aber bekannt sein, Pounds Lyrik-Ratschläge. Man merkt bei Joyce immer, daß er Sänger war. Auch im Deutschen „hängt“ der Joyce-Satz; man merkt der nachgebauten Alliteration etwas Zurechtgebogenes an: „Taddy“/“Tand“; obendrein bekommt das semantische Feld einen völlig anderen Zusammenhang untergebügelt. Überhaupt: stimmt „Tand“ hier, ist nicht vielmehr etwas Kindliches gemeint, das dem „Taddy“ – „Teddy“! – dann völlig entspricht? Liegt nicht da die semantische Wahrheit?)

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ulrich blumenbach

14. September, 2009 um 09:26

Joyce ist auch meiner Meinung nach der weit musikalischere Autor der beiden, dessen Romane ohne ihre Melodik glatt die Hälfte ihrer sinnlichen Wucht verlören: „Es gibt Melodien und Lieder, / die bestimmte Rhythmen betreun, / die schlagen dein Inneres nieder, / und du bist am Boden bis neun.“ (Gottfried Benn) Zwanzig Jahre danach finde ich übrigens auch, dass der “Tandmarkt“ den “toy fair” nicht trifft: Die mitschwingende nostalgische Erinnerung an den Zauber eines vorweihnachtlichen Spielzeugmarkts geht im abschätzigen „Tandmarkt“ verloren (ganz abgesehen davon, dass „toy fair“ phonetisch auch ein „Täufer“ ist, was bei uns ganz futsch ist). Wallace’ Satz lautet im Englischen übrigens: “she’d never so much again as in that line felt so t a k e n c a r e o f”.

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holio

14. September, 2009 um 09:32

„she’d never so much again as in that line felt so taken care of

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Alban Nikolai Herbst

14. September, 2009 um 16:15

@Ulrich Blumenbach (2).
Das „so t a k e n c a r e o f” hat eine sehr schöne Bewegung, etwas, das rhythmisch auffängt, zumal der Konjunktiv obendrein angezogen vorne steht, was ihn beinahe verschwinden läßt, so daß das being taken care of gegenwärtig, wenn nicht zeitlos wird – was ja der Präsenz einer solchen Erinnerung völlig entspricht. Wenn wir uns erinnern, reaktivieren wir Gefühle, die dann tatsächlich jetzt sind. Im Deutschen geht das hier verloren. Nicht bös sein, ich will gar nicht mäkeln, sondern taste nach einer Lösung; vielleicht hätte das „behütet“ den Satz abschießen müssen: als das, worauf es ankommt (und was nun verloren ist insofern, als es nicht wiederkommt). Hm. Mir ist jetzt aber sehr klar geworden, was Sie mit „zärtlichem Satz“ meinten.

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Martin Jordan

15. September, 2009 um 15:00

nur so nebenbei: Da wird bei Joyce auch Jesus zitiert : toy fair -> Täufer Daddy ist dann der Vatergott

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JesusJerkoff

15. September, 2009 um 21:34

Sehr geehrter Herr Blumenbach,

da jubel ich doch mal, leider nicht vorgebildet. Nehmen Sie doch kurz Platz:

Sie befinden sich in einer Schlange von Menschen (meist unbehaglich), einer Ihrer vertrautesten Menschen ist bei Ihnen (behaglich) und führt (behaglich) Sie zu einem Ziel (behaglich), zu dem Sie sowieso wollen (behaglich) und haben ein positives Erlebnis (behaglich), sowohl bei dem Führen als auch bei dem Erlebnis (behaglich).

Schtitt reicht das 6:1 natürlich nicht.

Danke für die Übersetzung!

JJ

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NO

5. November, 2009 um 12:14

Liebe und so…

Lieber Ulrich Blumenbach,

ich muss Ihnen widersprechen: Nicht Joelles Geborgenheit in der Warteschlange zusammen mit dem Vater ist die zärtlichste Passage von US; für mich ist der Punkt, wo man dieses Buch nicht nur intellektuell bewundern, sondern auch wirklich (echt) lieben mögen könnte, der des gestern gelesenen Spazierganges von Mario (S. 850 – 854).

Die Liebe Marios zu seinem Bruder Hal und die Echtheit der Dinge. Da geht es ironiefrei um Gefühl und um Menschlichkeit, ernst und hoffnungsfroh. DWF erschafft (für mich in echt) eine friedliche, ruhige, beinahe heilige Stimmung wie in der Weihnachtsnacht früher als Kind (oder wie unter einem unbeschwerten, leichten Mond, in dessen Silberglanze die Seele die Flügel ausbreitet und durch die Lande schwebt nachhaus; immer nachhause). Nicht zufällig vermutlich fängt die Passage an mit Andacht: „Seine Abendgebete dauern fast eine Stunde, manchmal auch länger, und sind keine Pflichtübungen.“ Er nimmt Anteil an Hals Schicksal, versucht, sich in einen anderen Menschen hineinzufühlen, aber: „Er weiß nicht, ob Hal traurig ist.“ Das alles schwebt wie in einer Sommernacht, ganz zart und vorsichtig. Und wenn es dann heißt „Mario liebt Hal so sehr, dass er davon Herzklopfen bekommt“, dann ist das nicht nur einer der zärtlichsten Sätze dieses Buches (bisher), sondern, endlich, es geht auch um die schmerzlich vermisste Poesie, Bruderliebe zwar (nur), aber eben nicht nur Spaß und Dreck.

Mario wandert durch die Nacht und betrachtet die Häuser mit den vom Leben „verkrümmten“ Menschen darin und fühlt sich mit ihnen und der Welt überhaupt verbunden, „und das ist gut gegen Schlaflosigkeit“. Und als dann schließlich, lächelnd eingeleitet durch den Etiketten-Satz davor, Marios Gefühle übersetzt werden: „Wenn er an Hal denkt, klopft sein Herz und seine dicke Stirnhaut wird ganz runzelig“, dann, ja dann – denkt man an ein kleines Nashornbaby und an das, was diese Welt ausmacht, und das Herz könnte einem übergehen…

Das ist jdf. ganz großes Kino (also ironisch gut, selbst wenn man es nicht ernst nimmt und mag). Auf jeden Fall ist es ganz großes Übersetzerkino. Ich weiß nicht, lieber Herr Blumenbach, ob es ein Kompliment für Sie ist, wenn ich finde, dass für mich bestenfalls die Moby Dick-Nachschöpfung von Matthias Jendis in Ihre Nähe kommen könnte. Aber ein Kompliment will ich Ihnen machen. Unbedingt, in echt.

With great respect and best wishes

NO

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ulrich blumenbach

5. November, 2009 um 13:37

Bei so großen Komplimenten weiß ich nicht, was ich sagen soll, also einfach nur: Danke, liebe NO!

Und Sie haben völlig recht: Ich habe lange Don Gately für den Helden des Buchs gehalten, weil er — nicht etwa aus Überzeugung, sondern oft genug aus Desinteresse, Trägheit oder weil er sprachunfähig ans Krankenhausbett gefesselt ist — andere Menschen rettet oder wieder aufrichtet. Aber zunehmend wird mir Mario, diese Parsifal-Figur, zur eigentlichen Lichtgestalt: Er wird in seiner Ironiefreiheit zum Heiland der E.T.A.-Schüler, die er dort berät, wo auch Lyle nicht mehr weiter weiß.

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Stephan Bender

5. November, 2009 um 14:12

@ Ulrich Blumenbach:

Als psychoanalytisch vorgebildeter Mensch würde ich sich in einer ‚Vaterlosen Gesellschaft‘ wie der heutigen jedem Menschen ausdrücklich dazu raten, sich einen zärtlichen Komplex zu seinem ‚Daddy‘ zuzulegen. Es ist sogar purer Luxus, der nichts kostet.

Eine Form der Emanzipation.

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JesusJerkoff

5. November, 2009 um 22:31

Sehr geehrter Herr NO,

da gedenkt mir gerade die Szene, in der Mario mit Blasrohr-Schtitt in der BMW zur Eisdiele brettert und er sich ausmalt, welche Sorten er jetzt alle essen könnte und sich dann doch wieder für Schokolade entscheidet, weil da einfach nichts schiefgehen kann. Danke dafür.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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