Lesekater

27. August 2009 |

26. August 2009
Müssen Leser den Drogen grundsätzlich zusprechen, um „Unendlichen Spaß“ zu haben mit dem Roman? Muss ich vor dem Lesen erst die vor Jahren angebrochene und nicht zur geordneten Entsorgung in die Apotheke zurückgebrachte Ritalin-Packung leeren, die Faustan, die ich für Panikattacken vorrätig habe und deren Ablaufdatum längst überschritten sein muss, einpfeifen, die Codeinfilmtabletten, verschrieben gegen Hustenanfälle vor Lesungen und inzwischen aus dem Verkehr gezogen, alle auf einmal nehmen, Mitbewohner bitten, mir Hasch, Ecstasy oder Koks aus diversen Klubs mitzubringen? Oder soll ich Hanf wieder selbst anbauen und so lange mit der Lektüre warten, bis die Pflanzen erntereif sind? Mich mit Wodka, Gin oder Kleinem Feigling zulöten, bis mein Gesicht so gelb ist wie das von dem Mitpatienten von Tiny Ewell? Oder wenigstens drei Tafeln Schokolade hintereinander essen, um richtig angefixt zu sein von der Lektüre? Angefixtsein hieße bei mir: alles stehen- und liegenlassen und lesenlesenlesen, stattdessen studiere ich diszipliniert Kapitel für Kapitel, unterbreche die Lektüre für die Arbeit an Manuskripten, koche, schwimme, höre G. zu, rede über ganz Abseitiges wie den „Vogelhändler“, fahre mit dem Fahrrad in den Ort und lasse den Unendlichen Spaß im Sommerhaus. Den größten Spaß hat mir bisher die Beschreibung des Überfalls von Don Gately und Kumpel auf Guillaume DuPlessis gemacht (S.80-87), ähnlich dem literarischen Vergnügen, das ich hatte, als ich durch Zufall an „In aller Vertrautheit“ geriet und dort als erstes die Erzählung „Die Seele ist kein Hammerwerk“ las, die der Hammer war, von der ersten bis zur letzten Zeile, während die anderen vier Geschichten mich langweilten (R., der das Exemplar gehört, sagt am Telefon: Ich ertrage so viele innerlich hässliche Menschen nicht) und ich lieber weiter Juri Trifonows „Moskauer Novellen“ las und dann gleich noch „Zeit und Ort“, und ich hätte sicher auch noch „Das Haus an der Uferstraße“ gelesen, wenn mir nicht „Unendlicher Spaß“ dazwischengekommen wäre, was mir gerade nicht soviel Spaß macht. Die Aufzählung der diversen Drogen und ihrer chemischen Zusammensetzung langweilt mich, das habe ich heute morgen schon in der Zeitung gelesen: die tödliche Dosis des King of Pop ähnelte den Anmerkungen 5 und 6.
Interessant ist, dass die Lektüre meine Aufmerksamkeit für anderes schärft, denn plötzlich fällt mir auf, dass die junge Frau, der ich seit Wochen hinterherrecherchiere, eine Art apokalyptische Reiterin ist, allerdings ohne Pferd, sie fuhr mit der U-Bahn oder mit der Straßenbahn Nr. 60. Denn jeder Ort, den sie zwischen November 1943 und April 1945 betrat, meist Kinos, Theater, Luftschutzkeller oder Kaufhäuser, wurde wenige Tage nach ihrem Besuch durch Spreng-, Minen- oder Brandbomben vollständig zerstört. Ihr selbst ist es nicht aufgefallen und nach Mai 1945 ist sie diese Gabe auch losgeworden.
Als ich beim Entzug des Tiny Ewell bin, läuft ein Baby-Tausenfüßler über das Buch, an der Wand klebt eine fette Kreuzspinne neben diversen Schnaken und Weberknechten und ich krieg irgendwie das schlechte Gefühl, selbst auf Entzug zu sein, also schließe ich das Buch bei S. 127 und schau mich nach anderem um.
Draußen riecht es nach Herbst.

4 Kommentare zu Lesekater

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Jan Böttcher

27. August, 2009 um 13:17

Lektüreeinschub: …aber im Band „In alter Vertrautheit“ ist doch neben dem Hammerwerk, das ich auch unglaublich fand, noch diese atemberaubende Geschichte von dem primitiven Regenwalddorf, in dem ein Kind geboren wird, das übermenschliche Fähigkeiten in der Analyse seiner Mitmenschen und deren Lebensbedingungen besitzt. Das Kind bekommt in der Mitte des Dorfes eine Plattform und wird als Orakel befragt, es wird verehrt, mythisiert und bald auch verachtet, es fördert mit jedem Tag die Zivilisierung des Dorfes, bis es von einem Schamanen des verängstigten Nachbardorfes aufgesucht wird, danach versenkt es sich, versinkt in Apathie, schließlich trotzt das weise Kind aber dem Bannspruch, reift heran, es orakelt weiter, antwortet auf Fragen mit Gegenfragen, es verhöhnt die Götter, es redet immer weniger konkret und nur noch im Redeschwall, bis „die Dorfbewohner in ihre Hütten zurücktaumelten, sich embryonal verkrümmt auf die Seite legten, die Augen verdrehten und hohes Fieber bekamen […].“ Das Chaos aber bricht aus, als das orakelnde Wunderkind sich selbst in Frage stellt. Es sagt, dass den Menschen, die nicht wüssten, was sie bräuchten, nicht geholfen werden könne. Einen Mann aus der Kriegerkaste treibt das Orakel so weit in den Wahnsinn, dass er im Urwald stirbt. Der Junge wird danach gemieden, offen angefeindet, es wird vom Dorf gehasst. Ihn auszuhungern gelingt nicht, er ist zu schlau. Am Ende hilft nur noch, das Dorf anzuzünden, den Jungen zu opfern im Brand. Die Menschen tun es, ziehen fort.

Was ich da jetzt so zusammenfasse, ist natürlich lange noch nicht alles, er spielt da auch noch das ihm so unendlichen Spaß bereitende Spiel des Wer-vermittelt-das-alles-wem und Was-musste-der-Hörer-wegen-Fluglärm-ergänzen. Das sind dann die notwendigen Atempausen der Story. Ich war damals so fasziniert von den dreißig Seiten Menschheits-Geschichte, dass ich, von der Lektüre aufsehend, das Café nicht mehr erkannte. Auf die Straße getaumelt, hinaufgesehen in die Bäume: Berlin, der Stadtteil, in dem ich wohnte, wenig weit weg von zuhause.

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Stephan Bender

27. August, 2009 um 16:12

@ Jan Böttcher: 30 Seiten? Och, das geht noch viel kürzer…
Jesus Christus war ein jüdischer Wanderprediger, dessen Anhänger das Christentum begründeten. Dies hinderte allerdings Christen nicht daran, Juden zu missionieren.

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Mark Z.

27. August, 2009 um 19:58

… weil sie selber Juden waren, zumindest die ersten 100 Jahre.

Ist man nicht oft, was man den anderen anbietet zu sein, um zu werden, was er ist?

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Lou

27. August, 2009 um 23:41

@Annett Gröschner, Mark Z.

Um der zu werden, der man (er? – Hal? – Avril?) ist schafft der Intellekt (des Autors? – des Lesers?) die begrifflichen, abstrahierenden (Sprach-)Bilder (der Literatur?), die dem Menschen die Illusion der Wahrheit einer Ordnung, einer „Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Grenzbestimmungen“, geben – „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“, um „mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz“ leben zu können.

Ist das der Lesekater? Infinite Jest demontiert die Illusion der Wahrheit einer Ordnung, die Mittel – mithin Drogen auf dem Weg zum apokalyptischen Exzess oder schizophrene Körper – sind Kontrastmittel, sie dysfunktionalisieren den Intellekt, nicht aber den Geist. Das macht das Unbehagen aus und lichtet bei Weitem nicht den „Nebel nach dem Tod“, es macht ihn produktiv. Der Kater wird sich überschreiten – denke ich.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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