…und so wie’s aussieht habe ich gute Chancen dieser Letzte zu sein.
Deswegen (nachdem ich den Blog längere Zeit nicht verfolgt habe) – zunächst meine unendlich profane Frage, was eigentlich nach dem 1. Dezember passiert?
Gehen Sie dann auf Kreuzfahrt, lieber Guido Graf?

Bevor es nun soweit ist, hier ein link, den ich schon vor einiger Zeit gefunden habe (vielleicht als Ergänzung – oder Zuspitzung – zum Resumee „Im Rückspiegel“ vom 15. November):

James Wood: Human, All Too Inhuman

Soweit ich gelesen habe, ist der Begriff des „Hysterischen Realismus“ hier noch nicht gefallen (hoffe, ich habe da nichts überlesen).
Eigentlich ist der Artikel eine Besprechung von Zadie Smith‘ Roman „White Teeth“, aber schon im ersten Absatz wird USp genannt, und einige der Einwände die Wood bringt (nicht nur gegen Smith oder Wallace, sondern auch gegen Rushdie, Pynchon, Delillo, „and others“) lassen sich natürlich mit Leichtigkeit auch gegen den Unendlichen Spass ins Feld führen.
Damit das gleich klar ist: ich bin nicht Woods Meinung. Aber – auch wenn ich mit der Lektüre noch nicht fertig bin (und auch keinerlei Aussicht besteht, dass ich es bis zum 1. Dez. sein werde), so habe ich doch von Anfang an den Eindruck gehabt, als ob gewisse Fragen, die in diesem Artikel auftauchen, auch Wallace beschäftigt haben mögen (Konstruktion vs. Dekonstruktion der Erzählung, psychologisch motivierte Charaktere vs. „Comicfiguren“ etc.; und natürlich das, was Wood „vitality at all costs“ nennt), und mehr noch- dass diese Fragen beständig in den Roman hineinragen, in mehr oder weniger versteckten Ecken reflektiert werden, z.B. auf Seite 1063, eine Stelle, auf die wiederum Hans Wedler schon am 1. November hingewiesen hat.

Norbert Zähringer, 1967 in Stuttgart geboren, wuchs in Wiesbaden auf. 2001 erschien sein Roman „So“. 2006 veröffentlichte er „Als ich schlief“, 2009 folgte sein dritter Roman „Einer von vielen“. Norbert Zähringer lebt mit seiner Familie in Berlin.

20. November

26. November 2009 |

22.30. Am Wasser. Soviel Apfelsinen kann man gar nicht essen, dass einen der Winterschlaf nicht einholt. Novembrigster November. Alles still, vorneheraus. Hintenheraus tritt von einem kahlen Mond und einer milchigen alten DDR-Laterne beschienen ein komplett bekiffter Hagermann auf eine wehrlose Humana-Box ein. Manchmal weiß man nicht, ob man nicht doch irgendwann ins Fernsehen gefallen und in einem schlechten schwedischen Krimi gelandet ist.
Don Gately ist tatsächlich in etwas gänzlich Unschönen gelandet. Wir erinnern uns vor urdenklichen Zeiten ist der vor Ennet-House von marodierenden (warens Kanadier?) Menschen zusammengeschlagen und angeschossen worden, die eigentlich Herrn Lenz jagten, der wiederum versucht hatte, ihre Hunde zu schlitzen. Don liegt also jetzt da und die Decke in der Traumaabteilung atmet. „Sie wölbt sich und schrumpft. Sie schwillt an und ab.“ Na das kann ja interessant werden. Ein trockener Drogist liegt in der Traumaabteilung und hat Schmerzen. Was werden sie dem wohl geben. Gately erinnert sich an seine Kindheit, als er im Strandhäuschen auch unter einer offenen, nur mit einer Plane geschlossenen Decke schlafen musste, die ständig zu atmen schien. Er hat Schmerzen, in der Kehle, in der Schulter, er sieht gespenstische Gestalten. Das tut alles so weh. Er träumt alp über alp. Und wenn er wach ist, kann er sich nicht wehren, gegen Schwätzer wie Tiny Ewell, die ihm ihre Geschichte erzählen. Ewell erzählt und erzählt. Wie er in seiner Jugend einen Geldstehlerclub gegründet hat, warum das schief ging und warum damit sein ganzes Leben schief ging. Ein AA-Treffen mit andern Mitteln, nur dass Poor Don Gately halt nicht weglaufen kann. Armes Schwein. Aus der Geschichte hätten andere mindestens eine Novelle gemacht. Eine magische. Geht hier im Schmerzensdunst von Gately aber ein bisschen unter. Ist doch eine gigantische Stoffsammlung, dieser Roman.
Gately wird von Demerol bedroht. Das hatten wir garantiert schon mal. Das wars wohl an dem hing, von dem er mühevoll loskam. Gately ist schlimmer dran, als wir uns das vorstellen und am Ende wird er wohl doch… Warten wirs ab.
Ewell erzählt weiter. Gately träumt wieder von seiner Kindheit. Auch so ein Diamant der Dysfunktionalität. Mutter wird verprügelt. Kind interessierts irgendwann nicht mehr. Eigentlich gehört Don schon längst in die Traumaabteilung. Der ganze Roman.
Die Leute vom Ennet House traumtänzeln durch die Intensivstation. Joelle van D. / Mdme. Psychosis sitzt an seinem Bett. Und tupft wie eine andere Veronika. Der Ennet-Hauspsychologe kommt vorbei und sagt, Gately sähe aus „wie ein Haufen Scheiße, auf den was Schweres draufgefallen“ sei. Sehr aufbauend. Dann wird die Geschichte von der chaotischen Erste-Hilfe-Katastrophe nachgeholt, die sich im Anschluss an den Shoot-out bei Ennet-House ereignet hat. Manchmal kann einen dieses marihuanaschleifenschreiben schon auf den Wecker gehen. Kann der sich nicht mal auf Gately im Bett konzentrieren. Immer wieder lässt er ihn los, immer wieder zerfasert die Geschichte und Menschen erzählen und erzählen, was sonst noch so alles passiert ist, was die anderen in Ennet-House jetzt machen. Das interessiert Gately nicht, das interessiert mich nicht. Das ist Folter. Wenn man sich zuviele Figuren ans Bein bindet, muss man sich nicht wundern, wenn die Geschichte irgendwann gewaltig hinkt.
Bevor ich jetzt endgültig miesepetrig werde – möge Gately traumlos ruhen. Ich versuchs jetzt auch.

19. November

26. November 2009 |

12.30. Sonne. Oben im bekifften Bus. Auf dem Weg zu Lew Tolstoi und seiner durchgeknallten Gattin Sofia ins Kino. Sind dem Storch und den Moms eigentlich nicht so unähnlich, die beiden, dysfunktional war diese Ehe nun auch. Nur dass der KriegundFriedensFürst in der wahren Wirklichkeit doch ein deutlicher alptraumhaftigerer Ehegatte war, als Jay Parini das in seinem Roman ausgepinselt hat, den Michael Hofman jetzt verfilmt hat. Angeblich die beste Literaturverfilmung des Jahres, was immer das wieder heißen mag. Der Spaß wird das nicht werden. Der ist unverfilmbar.
Molly gesteht weiter. Dass die Medusa eigentlich Lucille Duquette hieß, was fast so schlimm ist wie Jacqueline Schwotzow aus Marzahn. Dass sie entstellt ist, weil ihre später zerhäkselte Mutter mit einem Säurekolben nach ihrem Chemikergatten warf, aber leider ihre Tochter im allerschönsten Gesicht traf, woraufhin sich Mum den Kopf abhäkseln ließ.
Absatz. Pause. Fußnote. Und wieder werden wir zum Sprung dreihundert Seiten weiter nach hinten gezwungen. Soll das eigentlich lustig sein? Fußnote 332 ist die Fortsetzung von Fußnote 324 und wird nun der Welt bekannt geben, was der augenscheinlich unwillentlich unter Drogen gesetzte John Wayne von sich gegeben hat. D. h. erstmal geschieht nichts. Es wird herum schwadroniert. Dann werden die Beleidigungen vorgelesen. Pemulis kann sich als entlarvt betrachten. Wird zermanscht vom Scherbengericht. Und fliegt, was er nicht ganz begreift.
Wir hüpfen wieder zurück, fragen uns, was aus den eben noch sehr dringlichen Rollifahrer eigentlich geworden ist. Außer Atem kommen wir wieder an auf Seite 1142. Und DFW hat das Tempo rausgenommen. Hal ist unterwegs zu seinem ersten AA/NA-Treffen. Er fährt und fährt. Er hört Radio, was ein alter Trick ist, ein paar Informationen einzuschleusen. Er fährt und fährt. Und räsonniert über die ethymologische Geschichte des Wortes anonym. Und fährt und fährt. Und nennt sich Mike. Und fährt und fährt. Und kommt an und guckt sich um. Die langsamste Ortsbeschreibung im ganzen Spaß. Beschreibung von „optischer Fahrstuhlmusik“, ein Begriff, den man sich unbedingt merken sollte. Hal schleicht sich ins Treffen und findet sich unter lauter aus dem Ruder gelaufenen Mittelschichtsmännern wieder, die Bären umarmen und mit ihrem Inneren Säugling debattieren. Allein das muss einen dazu bringen, den Drogen fürderhin abzuschwören. „Ich fühle die Verlassenheit und den Liebesverlust meines inneren Säuglings.“ Mein Gott. Diese Szene lässt DFW geradezu genüsslich weiter eskalieren. Wobei sich der dicke, große äußere Säugling als Bruder von Orins ehemaligem Doppelpartner Marlon Bain entpuppt. Was es auch nicht interessanter macht. Hal schweift ab. Wir schweifen mit. Hal flaniert im Geist über die Via Appia (womit wir nach 1158 Seiten zum ersten Mal irgendwo außerhalb des nordamerikanischen Kontinents wären. Die Amerikazentriertheit kann einem schon gewaltig auf den Wecker gehen. Ist bei Haslett allerdings noch schlümmer). Hal ist wieder zurück. Und sieht einen dicken Ex-Säugling, der auf Knien über den Teppich krabbelt, behindert, Spuren in Teppich schleifend, kopfwackelnd, mit unbeschreiblichem Gesicht herumstarrend.
Wahrscheinlich fährt und fährt er jetzt zurück. Mein Bus fährt und fährt jetzt auch weiter. Ohne mich. Tolstoi’s calling.

Traum und Wirklichkeit

25. November 2009 |

Hatte ich in meinen vorhergehenden Beiträgen noch größeres im Sinn, bin ich inzwischen bescheidener geworden. Ich möchte lediglich wissen, warum Hal Incandenza am Ende des Romans, am frühen Morgen des 20. November im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche, im TP-Raum auf dem Rücken liegt.

Auffallend ist der sparsame Gebrauch des „Ich“. Dieses Personalpronomen ist das erste Wort des Romans und wird von Hal ausgesprochen. Das „Ich“ geht aber schon sehr bald verloren, wenn ich richtig erkenne, in einem Traum, der mit einem „Ich“ beginnt, aber mit einem „Du“ endet: „Du liegst da, wach und fast zwölf, und glaubst mit aller Kraft“ (S. 89-91). Das „Ich“ tritt erst wieder gegen Ende des Romans hervor und zwar ebenfalls in einem Traum (S. 1223). Es ist immer noch das Ich von Hal Incandenza. Wenn es auch nur sparsam in Erscheinung tritt, weist doch vieles auf das „Ich“ hin. Oder auf seinen Verlust. Das Motto der Tennisakademie lautet: „Wer seine Grenzen kennt, hat keine“ (S. 118). Die Mutter von Orin, Hal und Mario, die Moms, erscheint im familiären Sprachgebrauch nur im Plural, der Vater wird von seinen Kindern „Er Selbst“ genannt. Hal sagt von sich „Ich bin hier drin“. Eine Formulierung, die das „Ich“ nicht als eine umfassende Einheit beschreibt, sondern als Käfig. Ebenso wie Kate Gombert die, nach unzähligen Suizidversuchen, zutiefst in ihrer Verzweiflung versunken, dem Psychiater gegenüber formuliert: „Holt mich hier raus“ (S.114). Ich sehe auf Anhieb keine einzige Stelle in diesem Roman, an der das Ich unproblematisch erscheint.

Hal Incandenza muss am 11. November unter den Augen von Helen Steeply gegen Ortho Stice („Der Schatten“) spielen und entgeht nur haarscharf einer Niederlage. „Du bist einfach nie ganz da gewesen“ (S. 986) analysiert Aubrey deLint später das Match zwischen den beiden Kontrahenten, was Hal „bis ins Mark frösteln“ lässt. Ein verlorenes Spiel, ein schlechter Tag oder dass einer mal nicht ganz da und nicht auf der Höhe seiner gewöhnlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten ist, all dies würde einen nicht bis ins Mark frösteln lassen. Eine solche Formulierung ist nur angebracht, wenn etwas anderes auf dem Spiel steht als die Platzierung, das Ranking im Kader der E.T.A. Wenn es um das Mark geht, dann geht es um den Kern der Sache. Dieser Kern ist die eigene Existenz und das eigene Selbstverständnis.

Am selben Abend spricht sein Bruder Mario mit der Moms über Traurigkeit. Das Gespräch endet mit der Frage, ob ein Mensch in der Traurigkeit mehr oder weniger ist als er selbst. Die Moms fragt Mario, wer denn eigentlich traurig ist. Mario gibt auch auf die mehrfache Wiederholung dieser Frage keine Antwort. Diese Person ist offenbar nicht benennbar. In der Nacht darauf wacht Hal aus einem Alptraum auf und spricht mit seinem Bruder Mario und der sagt, als er über die Beleuchtungsverhältnisse im Zimmer spricht, zu Hal “Wenn du auf dem Rücken liegst, hast du keinen Schatten“ (S. 1122). Am Morgen des 20. November macht Hal genau das: Er entledigt sich der Bedrohung durch Ortho Stice, der kaum je genannt wird, ohne dass sein Beiname „Der Schatten“ fällt, indem er sich auf den Rücken legt. Stice ist unter Hal gelistet. Aber er will auf ein höheres Niveau, der will aufsteigen. Der will das so sehr, dass er den Eindruck hat, sein Bett steige nachts an die Decke. Zum Aufstieg des einen gehört in jeder Tabelle notwendigerweise der Abstieg eines anderen. Als Coyle Hal davon berichtet, dass der Schatten mit übernatürlichen Dingen experimentiere, um das Niveau seines Spiels anzuheben, sagt er „er will seinem Spiel helfen“. Hal retourniert „Oder dem eines anderen schaden“ (S. 1354).

Aus dieser Perspektive wird auch das Credo Lyles verständlich, nichts zu heben, was das eigene Gewicht übersteigt. Sich nichts zuzumuten, was das eigene Selbst und die eigenen Fähigkeiten übersteigt. Das geringste Zusatzgewicht, könnte einen Menschen an die Grenzen seiner Fähigkeiten bringen. Beispielsweise das eigene Gewicht zu heben und einen Stuhl. Ortho Stice verhebt sich genau daran. Das sind nicht drei oder vier Kilo zu viel, ein Niveau, das er mit Training sicher erreichen könnte. Das liegt vielmehr jenseits aller seiner Möglichkeiten. Stice kann sich selbst, auf einem Stuhl stehend, nicht hochheben. Das kann nicht einmal der Guru Lyle. Der hebt auch nur sein eigenes Gewicht, wenn er im Kraftraum einen Zentimeter über dem Boden schwebt.

Am frühen Morgen des 20. November entdeckt Hal den mit der Stirne an der Fensterscheibe festgefrorenen Stice, kann ihn aber nicht losreißen und legt sich später, nachdem er die Hausmeister verständigt hat, in einem Raum mit TP-Bildschirm auf den Rücken und verharrt in dieser Position. Zu diesem Zeitpunkt, gegen Ende des Buches, das chronologisch seinem Anfang vorhergeht, befindet Hal Incandenza sich nach einem langen Weg durch seine Kindheit, an der Schwelle des Erwachsenwerdens; an einer Schwelle, wo er sich nach seinem eigenen Anfang fragt und danach wie es mit ihm weitergeht. Der Rauschgiftsüchtige steckt bis über beide Ohren im Entzug, der für Wallace’ Verhältnisse, wenn man es mit dem von Poor Tony Krause (PTK) vergleicht, sehr moderat beschrieben wird. Ihm ist nicht klar, wie es weitergeht in seinem Leben, ob er den Entzug physisch und psychisch durchsteht und ob sein Körper dann soweit entgiftet ist, dass er den Urintest vor dem entscheidenden WhataBurger besteht. Sollten ihm die Urologen Manipulationen und Doping nachweisen können, stünde seine Zukunft auf dem Spiel: das Tennispiel und die Universität im darauffolgenden Jahr. Von der enormen Begabung, die wir auf den ersten Seiten präsentiert bekommen haben, wo er bei der Aufnahmeprüfung zur Universität über das Verhältnis von Camus zu Kierkegaard philosophiert und Hegels Auffassung von Transzendenz, ist zu diesem Zeitpunkt, wie überhaupt im Verlauf des Textes, wenig zu spüren. Nirgends wird berichtet, wie Hal nächtelang über Büchern sitzt und er macht auch nur eine sehr übersichtliche Anzahl extrem kluger Bemerkungen, die ein extrem kluger Mensch nun einmal machen muss, damit er von den anderen als solcher erkannt wird. Der Verschlinger von Wörterbüchern, das Kind zweier hochbegabter und ebenso hochproblematischer Eltern, liegt auf dem Boden und scheint gleichgültig, indifferent und für andere kaum noch ansprechbar.

Er hat Schwierigkeiten mit Beschreibungen, er sucht nach Worten, er ist sich seiner Situation auch bewusst: „Es hatte Zeiten gegeben, wo mir solche Daten unverzüglich zur Verfügung gestanden hätten“ (S. 1368). Er versucht sich zu erinnern. Er sucht nach einer Beschreibung dafür, wie er das auf seiner Brust stehende Glas wahrnimmt und entscheidet sich dann für „perspektivisch verkürzt“. Wie Erinnerungen nun einmal so sind. Er kann sich nicht erinnern wo ein bestimmtes Fries geblieben ist. Aber er kann sich erinnern, dass es einen Imperator mit „hyperanämischem Glied“ darstellte. Er erinnert sich auch an einen „beschlagenen Badezimmerspiegel, aus dessen Scheibe ein Messer vorstand“ (S.1366). Die phallische Komponente ist nicht zu übersehen. Er denkt an Sex. Aber nicht an den eigenen Sex, nicht an sich selbst beim Sex. Durch Orin abgeschreckt, der „genug Begattungsclownerien produziert“ (S. 914) scheint er sich eher für byzantinische Erotika zu interessieren. Er denkt an seine Mutter beim Sex. Zuerst mit seinem Vater, was Kindern, auch hochbegabten, in der Regel nicht gelingt. Dann wandelt er das ab, die Moms hat Sex mit anderen Männern, mit C.T., ihrem eigenen Halbbruder, was bei Hal erstaunlicherweise keinerlei Widerspruch oder Ekel hervorruft. Er zählt eine beeindruckende Liste an Liebhabern auf. Andernorts heißt es über Avril, sie hätte alles gevögelt was ein Y-Chromosom hatte (S. 1136), es ist die Rede von mehr als 30 Gesundheitsattachés (S. 46) und Molly Notkin äußert in ihrer Vernehmung sogar, dass Avril Sex mit dem eigenen Sohn Orin hatte (S. 1141). Das hat nicht nur nymphomane, das hat perverse Züge. Hal jedoch stellt sich all diese Rendezvous, selbst jene mit seinem Klassenkollegen John Wayne, rein organologisch vor. Sie „waren vor allem eine Frage von Athletik und Flexibilität, verschiedene Anordnungen von Gliedmaßen, und die Stimmung war eher eine der Kooperation als der Komplizen- oder Leidenschaft“ (S. 1375). Das scheinen mir nicht nur die Auswirkungen des Entzugs zu sein, er banalisiert vielmehr. „Sie lehnt sich an vier Kissen, halb sitzt sie also, halb liegt sie auf dem Rücken, und starrt reglos und blass nach oben. Wayne, schlank, mit braunen Gliedern und weichen Muskeln, liegt ebenfalls völlig reglos auf ihr, den ungebräunten Hintern in der Luft, das leere, schmale Gesicht zwischen ihren Brüsten, blinzelt nicht und hat wie eine betäubte Eidechse die Zunge rausgestreckt. So verharren sie“ (S. 1376). Sie bewegen sich nicht, also auch nicht die typische Bewegung, die man in so einer Szene erwarten könnte. Die Situation wird von Hal beschrieben, aber nicht emotional erlebt. Er liegt, wie seine Mutter beim Sex mit dem Klassenkollegen, auf dem Rücken, dieselbe Teilnahmslosigkeit und dieselbe Passivität.

Nacheinander stecken einige Klassenkollegen den Kopf durch die Türe, verschwinden aber schnell wieder, da Hal nicht reagiert. Schließlich erscheint der Freund Pemulis, der dringend reden will. Hal reagiert auch auf ihn nicht. Der Freund bedeutet ihm nichts, ja, selbst das Tennisspiel bedeutet ihm nichts mehr. Pemulis, der aufgrund seiner Scherze nicht sehr beliebt ist (womöglich auch aufgrund seiner sozialen Herkunft), der auch das Niveau nicht mehr halten kann, auf dem die meisten Spieler der Eta angelangt sind; Pemulis wurde als Verantwortlicher des Eschaton-Debakels identifiziert. Er sucht daraufhin Dr. Avril Incandenza auf und erwischt sie mit John Wayne in einer, wie man so schön sagt, kompromittierenden Situation. Offenbar versucht er später, sie damit zu erpressen. Wayne bedient sich in Pemulis Zimmer an Medikamenten, erwischt aber ein Drogenversteck. Und was er da zu sich nimmt, haut Wayne komplett aus den Schuhen. Dieser Drogenbesitz dient als Grund für Pemulis’ Rausschmiss. Daraufhin beeinflusst er den Urologen der O.N.A.N.T.A. die Urintests um 30 Tage aufzuschieben. Er rettet damit nicht seinen eigenen Hals, sondern den seines Freundes. Hal würde den Urintest nicht bestehen. Als Dank will Pemulis wahrscheinlich nun, dass Hal sich bei seiner Mutter für ihn einsetzt. Der weiß genau, dass das Verhältnis zur Mutter unrettbar zerstört würde, wenn die herausbekäme, dass ihr Sohn Drogen nimmt, bzw. dass er es heimlich tut. Pemulis will Incster oder Halster, wie er den Freund nennt, also erpressen. Möglicherweise hat er das auch bereits zuvor getan, da der ja von dem Verhältnis seiner Mutter mit Wayne weiß. Aber Hal reagiert nicht. Er bleibt einfach auf dem Rücken liegen. Er ist in einem indifferenten Zustand, er wirkt sogar auf andere ausgelassen und fröhlich. Obwohl er sich nicht so fühlt. Äußeres und Inneres lassen sich nicht zur Deckung bringen. Das Äußere ist nicht der Ausdruck seines Inneren. Diese Unsicherheit, diese Unverfügbarkeit seiner Mimik, dem Bild, das er bei anderen hinterlässt und hervorruft, scheint ihn bis in die Gegenwart hinein zu betreffen. Im ersten Kapitel, bei der Aufnahmeprüfung an der Uni, schneidet er offenbar Grimassen.

Auf dem Rücken liegt auch Gately. Auch er schaut, soweit bei Bewusstsein, an die Decke oder in die Vergangenheit, wobei letzteres offenbar weniger Bewusstsein erfordert. Er erinnert sich, genau wie Hal, an seine Kindheit, seine Mutter und an seine Mutter beim Sex. Auch dieser Sex ist größtenteils pervers: sie wird von Ihrem Liebhaber verprügelt. Auch hier stecken verschiedene Leute den Kopf durch die Türe. Und wie der Schatten im Flur der E.T.A. festklebt, klebt auch hier jemand vor seinem Zimmer auf dem Flur, den Gately nicht sehen kann. Gately sagt, genau wie Hal, ausgesprochen wenig. Von daher kann man zu diesem Zeitpunkt von einer parallelen Konstruktion, von einer isomorphen Anlage der beiden Erzählstränge ausgehen. Und doch befindet Gately sich in einer ganz anderen Situation. Nach der Schussverletzung liegt er im Fieberwahn im Krankenhaus. Er spricht nicht, weil er intubiert ist. Die beiden Personenkonstellationen unterscheiden sich in der Akzentuierung der Freundschaft. Fackelmann wie Pemulis sind Verräter. Während Hal Pemulis alleine lässt, bleibt Gately bei seinem Freund Fackelmann, der wie dieser ein Verbrecher ist, ein drogenabhängiger Schläger und durchaus nicht das, was man sich landläufig unter dem Begriff Freund so vorstellt. Freundschaft unter Drogensüchtigen ist sicher ein spezielles Kapitel im Buch der Freundschaft, aber Freundschaft unter Konkurrenten ebenfalls. Hal lässt Pemulis im Stich und das macht Gately mit seinem Freund nicht. Möglicherweise flüchtet Gately in der entscheidenden Situation nur deshalb nicht, weil Fackelmann Drogen besitzt und sein eigenes „Bedürfnisschema“ den Gedanken an Flucht gar nicht erst aufkommen lässt. Aus welchen Gründen Gately etwas tut oder etwas anderes unterlässt, er bleibt jedenfalls bei ihm.

Gately liegt im Krankenhaus und träumt im Fieberwahn. Er träumt Dinge, die er eigentlich nicht sollte träumen können. Er träumt den Film „Unendlicher Spaß“ mit Joelle van Dyne. Dabei kann er diesen Film nicht kennen. Die wenigen, die ihn bislang gesehen haben, sind nicht mehr in der Lage irgendetwas darüber zu erzählen. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass Joelle Gately davon erzählt hat. Erstaunlich ist, dass er sich den Film so erträumt, wie Molly Notkin, die Freundin Joelles, ihn den Agenten im Verhör erzählt. Und noch erstaunlicher ist, dass er den Traum offenbar ohne große Schäden übersteht. Entweder war das nicht der Film „Unendlicher Spaß“ von James Incandenza oder der Film ist einfach genauso fragwürdig wie seine anderen Filme auch. Dennoch gibt es ja die, die ihn gesehen haben und die danach gelähmt waren.

Zu Beginn des Romans, nach der unglücklichen Visitation an der Universität die zu seiner Fixierung auf der Toilette führt, sagt Hal „Ich denke an John N. V. Wayne, der dieses Jahr das WhataBurger’s gewonnen hätte und der maskiert Schmiere stand, als Donald Gately und ich den Schädel meines Vaters exhumierten“ (S. 27). Was dabei herausgekommen ist, wird nicht gesagt. Jahre zuvor sitzt der zehnjährige Hal beim angeblichen Psychiater, um seine Hochbegabung untersuchen zu lassen. Dieser Mann behauptet, dass das Original dieses Films, die Patrone “in das anaplastische Zerebrum deines eigenen überragenden Vaters implantiert wurde“ (S. 47). Der Vater ist nach seiner letzten Entgiftung und dem finalen Schnitt des Films für einige Zeit verschwunden. Seither wurde die Originalpatrone des Films nicht mehr gesehen. Hat er sie sich womöglich in den Kopf implantieren lassen? Das würde erklären, warum er, um sich umzubringen, diesen Kopf in die Mikrowelle steckt: um die Patrone mit dem Film restlos zu zerstören. Warum aber wird dann der Schädel exhumiert, wenn dieser Kopf doch, nach Aussage Hals, der seinen Vater gefunden hat, in der gesamten Küche verteilt gewesen sein soll?

Gegen diese Deutung spricht, dass Hal und Gately sich ja gar nicht kennen. Allerdings könnten Sie sich noch kennenlernen: zwischen dem Ende des Romans, da Hal siebzehn ist, und seinem Anfang, da er bereits achtzehn ist, liegen einige Monate. Vollends absurd aber wird es, als Gately genau dasselbe träumt wie Hal: zu einem Zeitpunkt, da die beiden sich noch gar nicht kennen können, als er noch im Krankenhaus liegt. In Gatelys Traum sind die Anklänge an Hamlet und die Friedhofsszene mit dem Hofnarren Yorick deutlich. Hier wird auch auf den Mythos der Medusa und ihre Enthauptung angespielt, und auf Joelle. Der „traurige Junge“ in dem Traum (S. 1342) kann nur Hal (Hamlet) sein. Mario hatte der Moms den Namen der traurigen Person nicht genannt, aber es weist alles auf Hal hin. Gately ist ganz sicher in seiner schulischen Karriere nicht so weit vorgedrungen, dass es zu einer Auseinandersetzung mit Shakespeare gekommen wäre. Ebenso wenig dürfe ihm der Mythos der Medusa bekannt sein. Wie kann er so etwas träumen?

Gegen Ende des Romans tritt die Wirklichkeit zugunsten anderer Alternativen immer weiter zurück, es wird erinnert, phantasiert, geträumt, gekokst und entzogen. Auch Orin träumt von einer Dekapitation, der seiner Mutter: „Er hat das schreckliche Gefühl, untergetaucht zu werden … Nach einer Weile befreit sich der Traum-Orin aus diesem optischen Ersticken, nur um festzustellen, dass der Kopf seiner Mutter, Mrs Avril M. T. Incandenza, der abgetrennte Kopf der Moms Auge in Auge mit seinem eigenen wohlgeformten Haupt verbunden … immer starrt er seiner Mutter aufs, ins und irgendwie auch durchs Gesicht … Im Traum ist es verständlicherweise lebenswichtig, dass Orin die phylakteriale Verbindung seines Kopfes mit dem köperlosen Kopf seiner Mutter kappt“ (S. 69). Hier treten ebenfalls die Mythologeme der Medusa und des Narziss hervor, der eigene Kopf und der des Gegenüber: das Verhältnis von „Ich“ und „Du“. Man sieht in das Gesicht des anderen hinein (hier ist die deutsche Sprache ausnahmsweise etwas ungenau: man sieht nicht hinein, man sieht darauf) und auch irgendwie hindurch. Was ich im Zusammenhang mit Penthesilea darzustellen versucht habe: das „Ich“, das wir nur als ein Bild von uns selbst begreifen können, entsteht anhand eines Gegenübers, es entsteht durch ein „Du“.

Was ist hier, gegen Ende des Romans, eigentlich los? Das ist keine einfach zu beantwortende Frage. Ich würde sagen: Es ist das sich um sich selbst drehende Mobile, von dem ich in meinem ersten Beitrag gesprochen habe. Es liegen hier verschiedene Erzählpartikel, Mobileteile, übereinander, die transparent sind. Wallace experimentiert hier mit Optik und mit Perspektiven. Die einzelnen Geschichten, die Erzählmomente werden übereinander geblendet, wie in einem Hologramm, bei dem verschiedene Schichten übereinander liegen und ein neues Bild ergeben. Wie in einem Traum. Träume werden auch als Schatten bezeichnet. Sie haben kein physikalisches, aber sie haben ihr spezielles, eigenes Gewicht: „Du liegst da, wach … und glaubst mit aller Kraft“. Dinge können gleichzeitig geschehen, sie können jedoch nur nacheinander erzählt werden. Diese Herrschaft der Zeit (das chronos logos, die vernünftige zeitliche Abfolge, das geordnete Nacheinander), die temporäre Ordnung hat im Traum keine Macht mehr. Der Mythos, die Enthauptung der Medusa, der Schädel von Hamlets Vater, der Kopf von Hals Vater, der Film und seine verschiedenen Varianten, die Trennung der phylakterialen Verbindung zwischen Mutter und Kind, die individuellen Geschichten der Personen, das alles blendet Wallace übereinander. Sodass selbst eine Person wie Lyle, der Guru der E.T.A., der weise Dinge äußert, wie „Die Wahrheit macht dich frei! Aber vorher macht sie dich fertig“ nicht nur er selbst zu sein scheint und in sich ruhend. Er scheint mehr zu sein als nur er selbst. Gately erinnert sich im Krankenhaus an einen Kerl namens Lenny, der genau diese Worte gesagt hat (S. 1398). Die Ebenen von Zeit und Wirklichkeit werden übereinander gelegt, sodass Menschen Dinge träumen und erleben, die sie objektiv betrachtet nicht hätten erleben können. Dabei ist es nur eine Art Unsicherheit oder Ungenauigkeit: Das Übereinanderliegen verschiedener, unter streng rationalen Bedingungen nicht kompatibler Ebenen.

In diese Überblendung spielt auch der Film „Unendlicher Spaß“ hinein. Der erzählt offenbar auch einen Mythos: den Mythos von der Mutter. Das erste Gegenüber eines Babys. Nach Aussage Molly Notkins sei der Film, außer dass er „ein Eintopf depressiver Spitzfindigkeiten gewesen sei, die von protziger Kamera-Artistik und perspektivischer Neuartigkeit zusammen gehalten“ wurden (S. 1135), offenbar nicht beeindruckend. Zu dieser technischen Seite sagt Joelle, dass das Objektiv, mit dem er aufgenommen wurde, ein „Okular-Schwabbel“ gewesen sei, welches den Blick eines Babys auf seine Mutter imitieren solle. „Ich weiß nur, dass ihr Sehvermögen etwas Schwabbeliges und Komisches haben soll. Ich glaube, je neuer sie geboren sind desto schwabbeliger. Und dann noch so eine milchige Verschwommenheit. Nystagmus bei Neugeborenen“ (S. 1350). Über ihren Filmpartner – von dem wir hier, soweit ich sehe, zum ersten Mal hören, bisher war lediglich von Joelle als Hauptdarstellerin die Rede – sagt sie „Hermaphroditisch. Androgyn. Die Figur sollte nicht eindeutig als männlich zu erkennen sein“ (S. 1348).

Fackelmann werden die Augenlieder an die Stirne genäht und dann wird er in eine Art Spiegelkabinett gesperrt, das alles vervielfältigt, was er in den letzten Momenten seines Lebens zu sehen bekommt. Er sieht alles. Auch Gately sieht unter Drogeneinfluss alles, er „bekam in fast unerträglicher Schärfe eine Rundumansicht des ganzen Zimmers“ (S. 1409). Und verblüffenderweise, neben den vielen seltsamen Figuren, die da auf den letzten Seiten noch auftauchen, ein Kuriositätenkabinett das seinesgleichen sucht, „dämmert es ihm (Gately) dass die Frauen in Mänteln und Schlampenstrumpfhosen in Wirklichkeit als Frauen verkleidete Tunten waren, also quasi Transvestalinnen“ (S. 1404). Da gehen nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Bezeichnungen durcheinander. Das sind nicht, wie Gately meint, („also quasi“) „als Frauen verkleidete Tunten“. Vielmehr sind Tunten Männer, die sich als Frauen verkleiden (und streng genommen verkleiden sie sich auch nicht). Heißen Männer, die umgangssprachlich als Tunten bezeichnet werden, nicht eigentlich Transvestiten (im männlichen Genus und nicht im weiblichen, also nicht Transvestitinnen und auch nicht Transvestalinnen?)? Hier geht’s offenbar richtig durcheinander (auch bei mir!).

Warum macht DFW das? In meinem ersten Beitrag über Chaos und Kosmos habe ich von Form gesprochen und behauptet, dass lediglich das Nichts und das Alles keine Form haben. Jetzt fällt mir auf, dass es noch ein Drittes ohne Form gibt, sozusagen der Oberbegriff von Nichts und Alles: die Ununterscheidbarkeit! DFW sammelt auf den letzten Seiten mittels Technik, Schwabbel-Objektiv und Überblendung von Mobileteilchen, solche Ununterscheidbarkeiten. Eine der grundlegendsten Unterscheidungen, die zwischen Mann und Frau, können wir hier nicht mehr einwandfrei vornehmen. Die Medusa fesselt durch Faszination und Entsetzen gleichermaßen. Das abgeschlagene Haupt hat in vielen Darstellungen sowohl männliche als auch weibliche Attribute. Auf den letzten Metern dieses Marathons ist nun von Androgynität, Hermaphroditen, Tunten und Transvestalinnen die Rede. Die Indifferenz von Hals Gesichtszügen während des Entzugs, die fehlende Übereinstimmung von Innen und Außen, weist bereits auf die große Indifferenz am Ende des Buches hin: auf ein Traum und Wirklichkeit transformierendes, transzendierendes und transvestierendes Element.

Der letzte Satz dieses Romans gehört Gately, nachdem ihm auf dieser Tuntenparty, wo Fackelmann seinem Tod ins Auge schauen muss und Gately „pharmazeutisch reines Sunshine“ in die Venen gespritzt wird: „Und als er wieder zu sich kam, lag er flach auf dem Rücken am Strand im eiskalten Sand, aus einem niedrig hängenden Himmel regnete es, und draußen war Ebbe.“ Der Bruch zu den vorhergehenden Seiten könnte kaum größer sein. Wir haben hier eine der wenigen schönen Naturbeschreibungen in diesem Buch. Man ist fast geneigt, sich zurückzulehnen und es gut sein zu lassen. Da hat DFW uns ja ein schönes Ende präsentiert. Da liegt (mal wieder) einer auf dem Rücken und lässt es sich (zum ersten Mal) gutgehen. Man könnte sich bei diesem Satz jetzt erholen, von den unzähligen Schweinereien und Zumutungen in diesem Buch, von all den Drogen und Behinderten und Toten. Aber die furchtbarste aller Zumutungen steckt gerade in diesem Satz: Gately erwacht am Strand. Er kommt zu sich. Aber in welcher Ebene der Wirklichkeit kommt er zu sich? Er liegt im Krankenhaus und phantasiert im Fieberwahn. Wenn er hier zu sich kommt, erwacht er wahrscheinlich im Krankenhausbett. Er erinnert sich im Fieber an die Tuntenparty und daran, dass ihm jemand sunshine spritzt. Ist der Strand lediglich die Wirkung dieser Droge? Bedeutet das, dass er an dieser Droge stirbt? Oder ist der Strand ein Zeichen, dass die Wirkung der Droge nachlässt, nicht sunshine, sondern Regen? Oder ist dieses Zu-sich-kommen genau das, was ein Zuschauer verspürt, wenn er den Film „Unendlicher Spaß“ sieht? Ist vielleicht gerade dies der Reiz dieses Films? Ist dies das metaphysische Testament dieses Romans: wir sind nicht bei uns, wir kommen erst zu uns? Deswegen dieser sparsame Gebrauch des „Ich“? Und dieses Zu-sich-kommen ist nicht Folge des Bewusstseins, eines gesteigerten, sensibilisierten Selbst-Bewusstseins, sondern hat eher etwas mit Optik und mit Perspektive zu tun. Ist das vorgeblich romantische Erwachen am Strand vielleicht kein Erwachen, sondern ein Sterben? Oder stirbt Gately im Fieber an der Schussverletzung? Wir können das nicht entscheiden.

Ich war nahezu 1500 Seiten lang begeistert, vom Ende war ich irritiert. Nachdem ich mir das allerdings schön geredet habe (alles, bis auf den letzten Satz), kann ich zumindest mit dem Ende umgehen. Mein Kritikpunkt betrifft in erster Linie das Übergewicht des einen Erzählstranges um Gately, und das Verschwinden vieler anderer. Das Ende Orins bedarf gerade mal einer Seite. Auch Joelle verschwindet nach einem ziemlich lauen Interview durch irgendeinen Geheimdienst mit wenigen Worten aus dem Buch: „Jetzt war sie nur noch eine kreidebleiche Version ihres normalen Selbst“ (S. 1376). Nach allem möchte man doch gerne ein bisschen mehr wissen, als dass die am schwersten zu durchschauende Person des Buches – aufgrund des Schleiers – nur noch die bleiche Version ihres Selbst ist. Verwunderlich dass, wer immer sie da verhört, er offenbar keinerlei Versuchung verspürt, ihr den Schleier abzunehmen und sie anzuschauen. Alle anderen Erzählfäden versacken und versanden. Das mindert aber nicht die Eloquenz, über die dieser Schriftsteller verfügt. David Foster Wallace kann ungeheuer viel. Der kann Sachen, die man nicht können dürfte, der kann mit schlechtem Deutsch gute Sätze schreiben!

Ich muss mich verabschieden. Machen wir‘s kurz: Adieu Otis P. Lord. Adieu auch Lateral Alice Moore, U.S.S. Milicent Kent (U.S.S.M.K.). Adieu Ann Kittenplan, Trevor „Axtstiel“ Axford, Jim Troelsch, Michael Pemulis, Ortho Stice („Der Schatten“), dessen größter Teil seiner Stirn am Fenster der E.T.A. festgefroren ist, Todd Possalwhite (Possenzeit) LaMont Chu, und natürlich Mario, die vielleicht einzig durchweg sympathische Figur dieses Buches, der einzige, der einen unverstellten Zugang zu den eigenen Emotionen zu haben scheint, die einzig echte Figur. Obwohl es jemanden gibt, der noch echter ist: die „bierglasgroße“ Tina Echt, die sechs oder sieben ist, bei dem Aufnahmegespräch an der E.T.A. einen Heulkrampf kriegt und bereits zur Elite ihrer Altersklasse zählt. Adieu an alle Anonymen Alkoholiker und Narkotiker, und an die unzähligen “endfertig abgekackten Vollflopper“. Adieu auch Don Gately, genannt GUN (Großer Unzerstörbarer Nullchecker). Ein besonderes Adieu an Joelle, von der wir noch immer nicht wissen wie sie eigentlich aussieht. Aber wir wissen immerhin, dass sie gut riecht. Adieu auch an Guido Graf und ein herzliches Dankeschön für die Betreuung!

Damit könnte ich jetzt aufhören. Kann ich aber nicht. Ich muss noch einmal zum Anfang zurück. Ich habe mit der Form dieses Romans angefangen. Und mit der Behauptung, dass ich affirmativ lese. Dann sind meine Überlegungen von der Form zum Inhalt gewechselt, durch die eine oder andere Geschichte im Unendlichen Spaß fasziniert und auch abgelenkt, durch Personen, Namen und Worte, Spannungsbögen und Schauermärchen bin ich hierhin gekommen und dorthin, und über alldem bin ich womöglich in die falsche Richtung gegangen. Jetzt stehe ich am Ende und denke an den Anfang. Und ich bemerke, dass mein Thema vielleicht doch nicht der Inhalt war, der ja, wenn das Buch sich wenigstens halbwegs an die Konventionen hält, zwischen Anfang und Ende zu finden ist. Ja, dass mein Thema nicht einmal die Form war. Mein Thema war, was bestimmt irgendeiner längst vergessenen und völlig obskuren Erzähltheorie zufolge genau zwischen Form auf der einen und Inhalt auf der anderen Seite liegt, mein Thema war die Farbe. Wie ich eingangs eingestanden habe, musste ich zweimal die Segel streichen. Beide Male, wie Segel nun einmal sind, in Weiß natürlich. Affirmativ Weiß. Affirmativ kosmisch-chaotisches Weltraumweiß, Weltinnenraumweiß. Was sich auf das Schönste mit dem Äußeren dieses Ziegelsteins deckt, dieses Infinitums, dieses Dingsdas, dieses Romans. Oder was immer das eigentlich sein soll.

18. November

25. November 2009 |

10.15. Großraum über St. Trübsalblasien. Lady-Grey-Tee. Muss langsam mal rechnen. Bin jetzt auf 1122. Macht bis Adam Hase bis 1410 noch 388 Seiten plus 36 Seiten verbliebener Anhang sind also, mal scharf nachdenken 424 Seiten geteilt durch 13 macht 32undeinpaargequetschtehinterm Komma. Muss mich ein bisschen sputen.
Hal und Mario begeben sich weiter in den innigen Infight ihres Bettgesprächs. Mario versucht herauszufisseln, was Hals Seele trüben könnte. Es geht wieder mal um Drogen, der Gebläsekiffer hat Angst erwischt zu werden. Und dass alles auffliegt. Und dass dann die Moms auffliegen. Dass alles in die Luft geht. Und Angst vorm kalten Entzug, weil er jetzt 30 Tage enthaltsam bleiben muss. Mario, der vertrollte Jesus, ist groß im Zuhören, aber göttergleich schlecht im Antworten geben. In Ennet House läuft einer der E.T.A.tisten auf und sucht Rat. Relativ reizlos, das Ganze bisher. Irgendwie hat der Junge gefrorene Haare und irgendwie blickt DFW von der Zukunft aus rückwärts. Soll Folgen gehabt haben, das Gespräch. Absatz. Punkt 324. Weiter geht’s auf Seite1527. Eigentlich eine Frechheit. Wobei die eigentliche Frechheit die weitgehend inhaltsfreien folgenden neun Seiten sind. Bin ich gewittrig heute, novembrig, umnebelt oder warum geht mir das Aufgespreizte dieses Besuch in pubertären Duschräumen so auf die Nerven. Nasszonen in der E. T. A. mit Freund Pemulis und Freund Possenzeit, der heulend auf der Bank liegt. Nichts ist wahr, heult er. Hat er recht. Darf auch nicht wahr sein. Neun Seiten. Dass der pubertärste Blödsinn mit den genau selben Mitteln aufgeplustert wird, wie der psychologisch interessanteste zeugt nicht gerade von ausgepägter literarischer Geschmackssicherheit. Wieder Fußnoten in Fußnoten. Und dann ists irgendwie aus. Und weiter geht’s ganz woanders. Mit der technischen Vernehmung der Molly Notkin (hatten wir die schon?).
Geblendet erzählt Molly den Agenten vom U. S. B. U. D. alles Mögliche. Über zwölf Seiten. Liest sich leider abgearbeitet. Musste jetzt wegerzählt werden. Sind ja schon bei Seite 1131. Wollen ja mal zum Ende kommen. Deswegen im Schnelldurchlauf. Madame Psychosis ist in der tödlichen Patrone nackt und schwanger zu sehen. Sie erklärt darin kindgerecht und jedem Trottel verständlich, der Tod sei immer weiblich, das Weibliche immer mütterlich, was erklärt, warum die Mütter in diesem Buch immer tödlich sind, und bedingt, dass „die Frau, die einen umbringe, im nächsten Leben immer die Mutter“ sei, was mich dazu bringt, doch lieber von der Wiedergeburtsidee Abstand zu nehmen. Wir erfahren, warum auch Küchengeräte im US eine Dissertation wert sind, weil nicht nur der James „der große Storch“ Incandenza in einer Mikrowelle den Kopf verlor, sondern auch die Mutter von Mdme. Psychosis sich das Leben in einem marktüblichen Küchenmüllhächsler zerschrotet hat. Molly erzählt und erzählt. Vom Storch und seiner Abstinenz und den Moms und ihrer Eifersucht und davon, wie Mdme. Psychosis vor lauter Schuldgefühlen wg. des Storchensuizid genau die Drogen einzuwerfen begonnen habe, derer sich der Storch enthalten habe vor der tödlichen KopfinkaputtgemachteMikrowelleLege, und wie sie ein fürchterbares Gesichtstrauma erlitten habe am Tag als sich ihre Mutter selbstzerhäckselte. Das geht noch sechs Seiten so weiter. Ich geh jetzt erstmal feuchte Luft schnappen.

17. November

24. November 2009 |

13.30. Teetütenkaffee mit Mülch. Vivaldis Vier Jahreszeiten. Das kann man tatsächlich so spielen, dass es sich nicht so anhört, wie eine gewöhnliche Tiefkühlquattrostaggioni schmeckt. Außerdem wird einem dabei etwas warm. Was nicht schadet in Trübzonesien. Und bei so gar nicht lustiger Lektüre wie Adam Haslett (ein von der Zukunft überholter Zukunftsroman) und Katharina Hacker (ein verspaltener Roman in zwei Spalten). Dabei hatte ich eigentlich nicht vor, mich in diesem Jahr noch zu ärgern. Aber wird man gefragt?
Werde ich gefragt, ob ich die Fußnoten lesen will? Nee. Muss aber, weil ich sonst nie fertig werde, bevor ich das erste Türchen am noch nicht bestückten Adventskalender aufkartätsche.
Madam/Mr. Steeply interviewt immer noch Orin. Und der berichtet Neues aus dem versponnenen Nervenbündel, das die Moms heißt. „Sie ist eine solche Zwangsneurotikerin, dass sie auch die Zwänge selbst so effizient arrangiert hat, dass sie alle auslebn kann und trotzdem noch jede Menge Zeit für ihre Kinder hat.“ Der Versöhnungskurs geht weiter? Es taucht eine Verschwörungstheorie auf, dass der große Storch vor seiner großen KopfindiekaputteMikrowelleLege reingelegt worden sein könnte. Und es wird das Geheimnis der wahren Genialität verraten, das jeder Zeitungsredakteur kennt (oder kennen sollte): Die wahre Genialität bösartig durchgeknallter Menschen „besteht darin, den Leuten, mit denen sie zu tun haben, das Gefühl zu geben, sie wären durchgenknallt“. Und dann erzählt er die wahrscheinlich wahre und unendlich traurige Geschichte von Hal, der in Glückpuschen in den Garten läuft und seiner verrückten Mutter, bei der man ständig das Gefühl hatte, sagt Hal, „der ganze Kosmos stünde kurz davor, zu siedenden Gaswolken zu explodieren, und würde nur durch schier übermenschliche Willens- und Genialitätsanstrengungen seitens der Moms zusammengehalten, einen angeknabberten Schimmelpilz aus dem dunklen Keller hinhält. Schauerliche Geschichte. Aber immerhin hierfür haben sich die Fußnotenärgereien doch gelohnt. DFW treibt Geometrie und erfindet „Das Frösteln der Inspiration“ von Prof. Dr. Günther Sperber, in dem es um „Spontane Erinnerungen von siebzehn Pionieren der DT-zyklischen lithiumisierten Annularfusion“ geht. Saprogene Hallöchen erzählt von seiner Beziehung zu Orin. Hallöchen hat todernste Halluzinogene eingeworfen und Behinderungen davon getragen, deswegen musste er weg von der E.T.A., jetzt führt er die Verschwörungstheorie um den Seppukku des großen Storchs aus: Auf den beschlagenen Scheiben des Volvos der Moms soll vorher ein Wort aufgetaucht sein. Man weiß aber nicht welches. Es soll sich aber „in alle Richtungen der Windrose ein eheliches Leichentuch ausgebreitet“ haben. Eheliches Leichentuch. Toll.
Es kommt zu Fußnoten in Fußnoten, die aber immerhin das Marihuana-Denken erklären, das wir von Herrn Erdedy ganz zu Anfang mitbekommen haben. S. Johnson kommt mittels der Moms Volvo zu Tode. Und Hallöchen stellt eine Kardinalfrage: „Warum bringen so viele Eltern, die unnachgiebig darauf erpicht scheinen, Kinder hervorzubringen, die sich für gute Menschen halten, die Liebe verdient haben, Kinder hervor, die sich für scheußliche Menschen halten, die keinerlei Liebe verdienen.“
Kann man also nur immer alles falsch machen in der Kindererziehung? Sollte man das mit den Kindern nicht gleich lassen? Zu spät.

16. November

24. November 2009 |

11.30. Großraum über Trübzonesien. Graugesichtiger Kaffee. Händels Wassermusik. Wetthusten von Arbeitswabe zu Arbeitswabe. Hab Sehnsucht nach der Matratzengruft. Traurigtraurig.
Dissoziation? Da ist man nicht ganz man selbst, sagt die Moms. Das sind Menschen, die eine tief sitzende Angst vor ihren eigenen Gefühlen haben. Hab ich nicht. Die Moms erzählt von Grandpa der Geld genug hatte zu investieren, in einen Punsch aus Delaware oder einen obskuren süßen Kaffeeersatz mit Kohlensäure. Grandpa entschied sich… Genau. Dumm jeloofen. Und wenn dann der Vater sich nicht totgesoffen hätte, wäre sie nie zur Uni gekommen. Und nie Mutter des totalvertrollten Mario, der die Mittfünfzigerin anhimmelt als wäre sie Angelina Jolie. Die redet von Suppression, von Menschen, die eingesperrt auf die Welt kommen. Wir streifen weiter durchs Minenfeld zwischen Mutter und Sohn. Großartig verschlingendes, leicht angekrängtes Gespräch. Dass die Moms es mit dem Windeln einfach nicht hingekriegt hat. Und verzweifelt darob. Im Innern der metallischen Moms schlägt ein Herz. Ist das hier jetzt eine Familienzusammenführung?
Ab in die Nacht. Hal und Trollo. „Die Dunkelheit hatte Form ohne Weite.“ Großartiger Satz. Noch so ein Gespräch. Umschlingender Dialog. Aneinandervorbeizueinanderhinreden. Hal träumt von Zahnbehandlung. Das ist jetzt auch schon mindestens der zweite. Über Zähne im Spaß könnte man auch dissertieren, wenn man wollte. Die beiden tauschen Dönekes aus über die Moms und ihren Hund S. Johnson (Samuel?) aus. Den sie überall hin mitnimmt. Notfalls als Blindenhund getarnt. Mit dem sie telefoniert. Dem sie esoterisches Futter kauft (makrobiotischer Pansen?). Das Gespräch kreiselt weiter, um Pemulis, um das schöne Geräusch des Gebläses. Und dann Trollo: „Hal, so ziemlich das Wichtigste für mich ist, dass ich dich lieb habe und froh bin, einen in jeder Beziehung so wunderbaren Bruder zu haben, Hal.“ Wen hat der denn als Drehbuchautor? Das ist ja furchtbar.
Weiter krängen zum nächsten Dialog. Kate Gompert und Marathe. Der entdeckt eine Ähnlichkeit Kates mit seiner komatösen Gattin und lässt folgenden Satz aus Blumenbachs Schrägstilmanufaktur aufblühen: „Ich verbringe einen Tag, um zu finden jemanden, der, ich glaube, meine Freunde werden ihn töten, die ganze Zeit erwarte ich die Gelegenheit, meine Freunde zu verraten, und ich komme hier und telefoniere, um sie zu verraten, und ich sehe diese verbeulte Frau, die stark meiner Frau ähnelt.“ Sehr hübsch. Eine Seelenverwandtschaft bauscht sich auf. Beide mit Schmerz im Selbst, „unfähig, etwas zu engagieren oder zu wählen von draußen“. Und Marathe erzählt die vollkommen beknallte Geschichte, wie er sich in seine Gattin verliebte: Er rettet ihr, klein, buckelig, Metallhut aufm Kopp, das Leben, er kehrt sie mit dem Rollstuhl gerade noch rechtzeitig vor einem Laster von der Straße. Und ein Blick von ihr – schon sind die Depressionen wech. Sie hatte nur leider keinen Schädel wg. Intoxikation der gesamten Südwestschweiz. Sie heiraten geradezu zwangsläufig, von der klinischen Depression als Schrotflinte zum Traualtar gestoßen. Kate reichts: „Sie spionieren und verraten die Schweiz, um jemanden vielleicht am Leben zu erhalten, der einen Haken, Spinalflüssigkeit und keinen Schädel hat und in einem irreversiblen Koma liegt? Und ich dachte, ich wäre gestört. Ich glaube, ich muss meinen Begriff von gestört ganz neu überdenken, Mister.“
Meine Begriffe von gestört hatte ich nach 25 Berufsjahren auch für ziemlich gefestigt gehalten. Und dann kam dieses Buch.

Ich sagte nichts.

24. November 2009 |

Es gibt zu viele potentielle Antworten, sowohl witzige als auch ernste. (S. 1304)

15. November

23. November 2009 |

14.30. Resthusten. Und jetzt hör ich auf, bevor noch ich den Hypochonderpreis des Jahres kriege. Marquis Poser trotzt dem Terror, sagt DIE Zeitung. Immerhin hat er sich schneller aus der Deckung gewagt als manch einer vom Rest der Truppe. Was macht eigentlich der Arbeitsminister Wiehießerdochgleich? Der Ablehnungstsunami ist wie erwartet tatsächlich über den Trauertsunami hergefallen. Was vielleicht nicht unbedingt zur Annäherung der Intellektuellen ans Volk führt, aber vielleicht immerhin dazu, dass man überhaupt Tsunami auf die Liste der mit publizistischer Todesstrafe belegten Sündenfälle aufnimmt. DFW ist fein raus. Sein Tsunami (der Haartsunami der Moms) steht auf Seite 1093.
Gott bin ich schon weit. Noch 300 Seiten. Was mach ich bloß danach. Länger schlafen. Wenn der Gnom es zulässt.
Dass die alle genauso verrückt sind, wie sie scheinen, sagt Orin „der Punter“ Incandenza über die Seinen. Joelle „die Kiffmedusa“ van Dyne findet das gar nicht. Und behauptet: „Die Familien unserer Geliebten verstehen wir alle intuitiv besser als unsere eigenen.“ Hm? Gloob ick nich.
Marathe geht in Gedanken fremd. Und scheint, wie das in Querdeutsch abgefasste Teil äußert, nicht mehr „abgegart“ genug. So sitzt er in Ennet House. Und bewundert die Geister, die da herum wuseln. Immer neue Körper krängen mit Plötzlichkeit ins Büro. Marathe wird ganz wuschig. Es knotet sich aber auch das Geschichtennetz enger, die Patronenspendis (vulgo von heute aus: DVDspenden) der E. T. A. kommen an, was Marathe doch sehr interessiert.
Wir rollen weiter mit Mario, der mit seiner Dogma-Kamera durch die E.T.A. fährt. Und keiner weiß, warum eigentlich jetzt. Überwiegend pudelnasse Tennisspieler. Fliegen drüber. Bleiben hängen an einem Wort. Kaopectate. Was immer das sein mag, es hat die Farbe von Hals Gesicht. Respektive umgekehrt (die Auskunft von Wiki, dass es sich bei Kaopectate um ein Bismutsubsalicylat, das gegen Diarrhö verabreicht wird, handelt, bringt meine Farbvorstellung auch nicht weiter, bei Diarrhö weiß ich ja näherungsweise, wie die… ). Jedenfalls ist Hal wohl mit einem falschen Urinbeutel, möglicherweise. Interessant wird als Mario jetzt dem Haartsunami von April „die Moms“ Incandenza in ihrem Bureau an ihrem Schreibtisch gegenüber tritt. Seiner Mutter sozusagen. Bin ich schon ausgehustet oder versucht DFW gerade in Sachen Mutterschutz zurückzurudern? So nett kam die schönste Schreckschraube aller dysfunktionalen Muttertiere nie weg als gerade hier. Die schleimt sich an ihr Monster von Sohn geradezu an. Was ist denn hier los? „Wunder Sonder Zahl“ Oder will er sich nur von der anderen Seite entlarven. Jetzt sitzt sie tycoonmäßig da, in einer gebieterischen Haltung, die Stuhllehnen gepackt, Stift zwischen den Zähnen wie die Zigarre eines Geschäftsmanns. Von oben herab. Von unten herauf robbt sich Mario an die Frage aller Fragen heran: „Wie weiß man, wenn jemand traurig ist.“ Schon sind wir wieder im Enkefeld. Sie fieseln im Allgemeinen herum. Bis die Moms nach Hal fragt. Der hat sich als Nachtisch voller Verwirrung Apfel mit Senf bestrichen.
Schlimm. Muss erst mal einen Spekulatius essen auf die Vorstellung.

14. November

20. November 2009 |

22.45. Am Wasser. Auf der gelben Wolke. Husten der Stärke zwölf auf der nach oben offenen Hirnerschütterungsskala. Trocken wie ein Wind über der Wüste. Andre Agassi hatte Depressionen, sagt er. Das ist die kahle Spitze des Eisbergs. Morgen werden die ersten Intellektuellen ihr schütteres Haupt schütteln darob, dass die Massen trauernd durch die Straßen ziehen und ins Hannoversche Stadion. Vielleicht weil die was haben, was ihnen fehlt. Herz. Menschen sind was wunderbares.
Um das Herz grinst, lächelt, witzelt sich DFW auch immer rum traut er sich nicht. Gibt’s nicht mehr im Spaß. Ausgeräuchert, aufgeräumt, von gefühligen Sentisimatenten gereinigt, als hätte Joelle sich mit der Wurzelbürste dran versucht. Die putzt immt noch. Und erinnert sich daran, wie es anfing mit dem verrückten Storch. Die ersten Konnexionen. Wie er Selbst sie einfangen wollte. Wie Orin sie missbrauchen wollte als schönster Brückenkopf zum Verrückten Storch. Auch son Intelleller. Brillant, aber kalt, eisekalt. Versteinert. Wie vom Basiliskenblick der Joelle gestreift. Was für ein verstörter Haufen. Und jetzt gehen sie auch noch essen. Das kann ja nicht… Da möchte man nicht… Muss man ja auch nicht. Verspannter geht’s nicht. Und gleich das nächste Essen. Thanksgiving mit April und Orin und dem ganzen seelisch verwachsenen Incandenzahaushalt. Der Storch säuft. Joelle lässt sich über die „Personalistes“ aus, eine Gruppe von Ästhetikern, die von 1930 bis 40 die katholischen Intellektuellen in Frankreich beeinflussten. Unnützes Wissen? Das Essen endet in einer Art Explosion des guten Willens. Marathe rollt und radebrecht weiter, erfindet die Geschichte seiner Sucht und seiner Behinderung. Und befindet sich ganz in der Nähe des SCH.M.A.Z. Ich mich auch. Nutzt aber nix. Das Resthirn bekommt Schleudertrauma vom Husten. Scheusslich. Dann lieber Schweinegrippe.

Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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  • Steffen: Ja tatsächlich tolle Idee und schön umgesetzt. Das ist ein ziemlich vertrackte Stelle im Buch der [...]
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