Hal Incandenza driftet und kommt zu merkwürdigen Erinnerungen:

Unendlicher Spaß, Seite 27:

Man wird mich in eine Notaufnahme bringen und festhalten, bis ich Fragen beantworte, und wenn ich dann Fragen beantworte, wird man mich sedieren; Krankenwagen und Notaufnahme werden also auf eine Umkehrung der Standardreise hinauslaufen: Erst die Reise, dann das Lebewohl. Sehr kurz denke ich an den verstorbenen Cosgrove Watt. Ich denke an den Trauertherapeuten mit Hypophalangie. Ich denke an die Moms, die im Schrank über der Mikrowelle Suppendosen alphabetisch ordnet. An Seiner Selbst Regenschirm, der am Rand des Posttischchens gleich vorn im Foyer des Rektorenhauses an seinem Griff hängt. Der schlimme Knöchel hat das ganze Jahr noch nicht geschmerzt. Ich denke an John N. V. Wayne, der dieses Jahr das WhataBurger’s gewonnen hätte und der maskiert Schmiere stand, als Donald Gately und ich den Schädel meines Vaters exhumierten.

Hal kann nicht sprechen. Später, in einer anderen Szene, die Erinnerung an ein als Therapeutensitzung getarntes Gespräch mit seinem Vater James Incandenza, das kein Gespräch ist, sondern wiederum nur demonstriert, dass sie nicht miteinander kommunizieren können. Hals Vater ist längst ein Geist. Gately bekommt später von diesem Geist Besuch, als er fiebernd im Krankenhaus liegt. Er fragt sich schließlich auch, warum der Geist nicht mit seinem bescheuerten Sohn in Verbindung treten kann. Spätestens dann lernen wir natürlich, was es mit den Erzählungen auf sich hat, in denen James Incandenza von seinem Vater, Hals Großvater, berichtet.

Er sagt, Stell dir bloß das Grauen vor, während deiner ganzen unsteten einsamen Kindheit im Südwesten und an der Westküste deinen Vater vergebens davon überzeugen zu wollen, dass du auch nur existierst, etwas so gut zu machen, dass du gehört und gesehen wirst, aber auch nicht so gut, dass du nur zur Projektionsfläche seiner (des Dads) Misserfolge und seines Selbsthasses wirst und nie richtig wahrgenommen wirst, wild durch den destillierten Nebel gestikulierend, sodass du noch als Erwachsener das ganze feuchte, wabbelige Gewicht des Scheiterns, je wirklich von ihm gehört zu werden, mit dir herumschleppst, es in deinen belebten Jahren auf den zunehmend zusammengesackten Schultern mit dir herumschleppst – nur um gegen Ende festzustellen, dass dein eigenes Kind selbst ausdruckslos, involuiert, schweigsam, beängstigend, stumm geworden ist. Das heiße, sein Sohn sei zu dem geworden, was zu werden er (der Geist) als Kind zu sein befürchtet habe. Gately verdreht die Augen. Der Junge, dem alles mit der natürlichen und unzusammengesackten Anmut gelungen sei, die ihm (dem Geist) immer gefehlt habe, den der Geist so furchtbar gern gesehen und gehört habe und den er so gern habe wissen lassen, er (der Sohn) werde gesehen und gehört, dieser Sohn habe sich gegen Ende seines (des Geists) Leben schrittweise immer weiter zurückgezogen; und niemand in der Kernfamilie des Geists und des Jungen habe das sehen und wahrhaben wollen, die Tatsache, dass dieser anmutige und wunderbare Junge direkt vor ihren Augen verschwunden sei. Sie hätten hingesehen, ohne seine Unsichtbarkeit wahrzunehmen. Und sie hätten die Warnung des Geists gehört, aber nicht beherzigt. Gately stellt wieder das dünne, verkniffene Lächeln der Abwesenheit zur Schau. Der Geist sagt, die Kernfamilie habe ihn (den Geist) für labil gehalten und vermutet, er verwechsle den Jungen mit seinem (des Geists) eigenen Kindheits-Ich oder aber mit dem Großvater des Geists, einem ausdruckslosen, hölzernen Mann, der den Vater des Geists der Familienmythologie zufolge »zur Flasche getrieben« habe sowie zur Nichtrealisierung seines Potenzials und zum frühen hämorrhagischen Hirninfarkt. Gegen Ende habe er insgeheim zunehmend befürchtet, sein Sohn experimentiere mit Drogen. Der Geist muss weiterhin immerzu die Brille hochschieben. Fast verbittert sagt er, wenn er aufgestanden sei und die anderen mit Armgefuchtel darauf hinzuweisen versucht habe, dass sein jüngster und meistversprechender Sohn verschwinde, hätten alle bloß gedacht, seine ganze Erregung gehe darauf zurück, dass der Wild-Turkey-Konsum ihn plemplem gemacht habe und er wieder einmal versuchen müsse, trocken zu werden. Damit hat er Gatelys Aufmerksamkeit.

Und auch vermutlich auch die des Lesers. „Ich bin hier drin“, sagt Hal zu Beginn, und des Vaters Geist erzählt Gately, wie er versucht habe, ihn da wieder herauszuholen.

Der Geist fährt sich über den langen Kiefer und sagt, die gesamten trockenen letzten neunzig Tage seines belebten Lebens habe er unermüdlich daran gearbeitet, ein Medium zu finden, mit dessen Hilfe sein stummer Sohn und er sich einfach bloß hätten unterhalten können. Etwas auszuhecken, das der begabte Junge nicht in null Komma nichts bewältigt hätte, bloß um sofort zum nächsten Plateau weiterzustürmen. Irgendetwas, das der Junge so sehr gemocht hätte, dass er aus sich herausgekommen wäre und den Mund aufgemacht hätte – und sei es nur, um Nachschlag zu fordern. Spiele hätten das nicht geschafft, Profis hätten das nicht geschafft, und die Nachahmung von Profis hätte das nicht geschafft. Seine Ultima Ratio: Unterhaltung. Etwas so verdammt Unwiderstehliches zu machen, dass es beim Sturz des Jungen in den Schoß von Solipsismus, Anhedonie und Tod im Leben eine Schubumkehr ausgelöst hätte. Ein magisch unterhaltsames Spielzeug, das man dem Kleinkind, das irgendwo in dem Jungen doch noch am Leben gewesen sein müsse, vor die Nase hätte hängen können, um seine Augen aufleuchten und seinen zahnlosen Mund im unbewussten Lachen aufgehen zu lassen.

Wäre Hal also der Einzige, der imstande ist, den Unendlichen Spaß zu überleben? Weil er schon hohl ist? Und warum erzählt der Geist das gerade Gately? Oder hat Hal, umgeben von Körpern und Köpfen, wie es im ersten Satz des Romans heißt, den Film gesehen und wir erleben nun, was er bei ihm ausgelöst hat? Ergeben in eine Flut aus Einsamkeit.

Gately wird Hal im Roman nie begegnen. Er träumt nur einmal davon, „er ist mit einem sehr traurigen Jungen zusammen, sie sind auf einem Friedhof, graben den Schädel eines Toten aus, und das ist sehr wichtig, quasi kontinentalkrisenwichtig“ (ob sie wirklich graben, je gegraben haben, ist sicher noch eine andere Frage; ebenso, ob und was da zu finden sein kann – dazu später mehr).

Hal erinnert sich, Gately träumt. Macht es einen Unterschied? Hamlets Gespräch mit dem Totengräber kann vielleicht Aufschluss geben. Der erkennt in der ersten Szene des fünften Akts Hamlet nicht und spricht von Hamlet, der den Verstand verloren hat („losing his wits“). Der Totengräber, noch im Grab stehend, hält dann auch Yoricks Schädel hoch und Hamlet erinnert sich (wir hatten das ja schon mit dem üblichen und üblicherweise verkürzten Hinweis, woher der Titel von Wallaces Roman rührt):
„Alas, poor Yorick! I knew him, Horatio – a fellow of infinite jest, of most excellent fancy.“ Mehr wird meist nicht zitiert, aber es lohnt durchaus, hier weiterzulesen: „He hath borne me on his back a thousand times, and now how abhorred in my imagination it is! My gorge rises at it … Here hung those lips that I have kissed I know not how oft.“ Hal und Gately hätten etwas finden wollen in dem Schädel, was nicht da sein kann.
Gately ist wieder in einen Fiebertraum gefallen, Der Geist erscheint ihm erneut und er hat noch einen zweiten Geist bei sich, deutlich jünger und der beugt sich zu Gately, um ihm mit spitzer rauher Zunge die Stirn zu lecken, während Gately auch noch davon träumt, wie einst der prügelnde Lebensgefährte seiner versoffenen Mutter die Katze Niemitz in den Müllschlucker gesteckt hat und der Müllschlucker daraufhin tagelang nicht funktionierte. Und nun diese Zunge, der Atem des Geists ist ungewöhnlich kühl und riecht nach nichts. Im Traum blickt er in den Spiegel und sieht nichts. Er putzt den Spiegel, doch es hilft nichts. Also träumt er von dem „sehr traurigen Jungen“:

Gately ist der beste Gräber, aber er ist übel hungrig, also unbezähmbar hungrig, und isst mit beiden Händen aus Familienpackungen Konzern-Snacks, sodass er nicht richtig graben kann, und es wird immer später, und der traurige Junge will Gately anschreien, dass das wichtige Ding im Schädel des Toten begraben worden sei, und sie müssten die Kontinentalkrise abwenden, indem sie den Totenschädel ausgrüben, bevor es zu spät sei, aber der Junge bewegt die Lippen, ohne dass ein Ton herauskommt, und Joelle van D. erscheint mit Flügeln und ohne Höschen und fragt, ob sie ihn kannten, den Toten mit dem Schädel, und Gately erzählt von seiner Bekanntschaft mit ihm, obwohl er tief drinnen in Panik gerät, weil er keine Ahnung hat, wen die eigentlich meinen, und der traurige Junge hält irgendwas Grausiges an den Haaren hoch und verzieht das Gesicht wie jemand, der voller Panik Zu Spät schreit.

Träume von Toten (und ihrem erneuten Erscheinen als Geist, nicht nur bei Ihm Selbst) bevölkern den Roman. Hal wünscht sich, könnte man annehmen, einen tröstlichen Tod für seinen Vater. Über der Mikrowelle, die James Incandenza präpariert, hat Avril Incandenza Suppendosen alphabetisch geordnet (wie kann man sich das vorstellen? Wie viele Sorten Suppendosen müssen das sein, dass es sich lohnt sie alphabetisch zu ordnen?). Hal und Orin am Telefon. Sie reden unter anderem über die Mikrowelle. Orin will wissen, wie genau ihr Vater gestorben ist – während Hal sich die Fußnägel schneidet. „Ich rühre mich nicht von der Stelle“, sagt Hal. Davon lebt der Unendliche Spaß.

Heute, 12. September 2009, ist der erste Todestag von David Foster Wallace.

12 Kommentare zu Vater, Sohn und der Heilige Geist

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sinedi

12. September, 2009 um 12:55

Ja – zum Todestag sind das die richtigen Zeilen:

Diese Geister, die er rief, die wispern ja auch beim Lesen dieses US-„KLotzes“ (Die Zeit) durch Otto Normalverbraucher um einen herum, um mich herum.

Da glibbert und schneckt es in den Ventrikeln – geschleimte Schmatzlaute, wenn man genau hinhört …

Und welcher Text – und welcher Sinn ?

Sinn ? – Was macht den(n) Sinn ??? Wie kann man längst von allen Sinnen verlassen sein und dann noch nach Sinn suchen ? Wir sind doch froh, den Sinn überwunden zu haben. Endlich…

Sinnlose Spiritualismen allenfalls als Restfetzen – die uns auf höchstem Niveau beschäftigen und besänftigen werden.

Und das hinterlassene Vakuum füllt sich, wenn man genau hinlauscht …

Ich habe S. 379 erreicht – und bin weiterhin überwältigt von der Sprachkunst des DFW und des Übersetzers …

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Clemens Setz

12. September, 2009 um 16:03

@ Guido Graf
Ich bin begeistert, so ein schöner Beitrag! Herr Goerlandt hat zwar vorgeschlagen, das Thema fürs Erste noch ruhen zu lassen, aber wer weiß, ob wir uns im Winter noch an all diese Szenen und Detektivspiele erinnern…
Den Traum von Don Gately habe ich damals, als ich das Original gelesen habe, überhaupt nicht registriert. Aber jetzt, beim zweiten Mal, merke ich, dass unglaublich viel leer durchgegangen ist.

S. 47: (JOI spricht) „Dass die supergeheime Materialzusammensetzung deiner Zitat ‚gesponserten‘ Zitatende Widebody-Tennisschläger von Dunlop aus Hi-Mondulus-graphitverstärkten Polykarbonat-Polybutylenfasern organochemisch identisch, ich wiederhole, identisch ist mit der des gyroskopischen Balancesensors, der mise en scène-Bereitstellungskarte sowie der priapistischen Unterhaltungspatrone, die in das anaplastische Zerebrum deines eigenen überragenden Vaters implantiert wurden nach der grausamen Serie seiner Entgiftungen und Darmentschlingungen, seiner Gastrektomie, Prostatektomie, Pankreatektomie und Phallotomie…“

Ihre Interpretation ist eine sehr tröstliche: die Unterhaltungspatrone „Unendlicher Spaß (V)“ als Geschenk für den in kosmische Indifferenz abgleitenden Sohn. Seine körperlichen Probleme wie das seltsame „nicht-einmal-mehr-säugetierähnliche“ Sprechen im (bei einem möbiusschleifenförmigen Buch wie diesem eigentlich am Ende zu platzierenden (das Jahr des Glad-Müllbeutels entspricht, wenn ich die schlauen Leute, die das nachgerechnet haben, richtig verstanden habe, 2009?)) Anfangskapitel sind wohl eine Folge seiner Drogensucht.
Am Ende des ersten Kapitels (S. 17), heißt es: „Meine Augen sind geschlossen; im Raum herrscht Stille. ‚Ich kann mich jetzt nicht verständlich machen.‘ Ich spreche langsam und akzentuiert. ‚Könnte sein, dass ich was Falsches gegessen habe.“

Dem folgt gleich die Erzählung vom Schimmelpilz.

Und auf Seite 245 steht: „[DMZ] unterscheidet sich aber beträchtlich von LSD-25, insofern seine Wirkungen weniger optischer und räumlich-zerebraler als vielmehr zeitlich-zerebraler, fast ontologischer Natur sind und eine Art phrenylalkylaminmanipulierte Schnelligkeit fingieren…“ Und: „Das unglaublich starke DMZ wird aus einem Fitviavi-Derivat synthetisiert, einem obskuren Schimmelpilz, der nur auf anderen Schimmelpilzen wächst…“

Hal nimmt also sein eigenes Sprechen als ganz normal wahr, während es in Wirklichkeit unendlich verlangsamt vorangeht.
Vgl. dazu die großartige Fußnote 57: „ein solcher Bericht […] findet sich in einer Monographie, die en passant einen italienischen Lithographen zitiert, der einmal DMZ genommen und später eine Lithographie angefertigt hatte, die ihn als futuristische Skulptur auf DMZ zeigte, die mit hoher Knotenzahl durch die thalassofizierte Zeit pflügte, kinetisch selbst in der Stasis, temporal dahinpflügte, und die Zeit sprühte in Form von Gischt und Schaumkronen von ihm fort.“
Unglaublich. So einen Absatz würde ich auch gern schreiben können. DMZ bewirkt einen Abstieg in eine zeitenthobene Hölle, die ein anderer italienischer – nun ja, zwar nicht Lithograph, aber immerhin Kupferstecher – in seinen Carceri d’Invenzione dargestellt hat. Endlosschleifen, Endlosschleifen. (Ein wenig irritiert hat mich in dem Absatz das Wort „thalassofiziert“ – eigentlich eine sehr schöne Wortschöpfung, aber im Original, zumindest in meiner Ausgabe, steht da nur: „plowing at high knottage through time itself.“ @ Herrn Blumenbach – woher kommt denn das Wort? Ich nehme an, wenn man es wegließe, würde man im Deutschen nicht so deutlich das Bedeutungsfeld „Meer“ heraushören wie im Englischen.)

Ein paar noch offene Fragen: Funktioniert DMZ (bzw. der Schimmelpilz) tatsächlich wie eine Schutzimpfung gegen das Zu-Tode-Unterhalten-Werden durch US? Gibt es Hinweise im Buch, dass Hal den Film irgendwann zu sehen bekommt?

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Marcus Klugmann

12. September, 2009 um 21:10

Da Sie gerade bei der Übersetzung sind: Ich habe mich gefragt, warum das Wort ’stasis‘ – wie ich beim Vergleich des Unendlichen Spaßes mit den angelesenen paar Probeseiten von Infinite Jest auf amazondéeh festgestellt hab – mal mit ‚Stillstand‘ (US S. 13) übersetzt, an anderen Stellen aber als ‚Stasis‘ belassen wird (in Fußnote 57 z.B.).
Und: warum, wie schon an anderer Stelle irgendwo (ziemlich zu Beginn des Blogs) gefragt, in der indirekten Rede oft die falschen Konjunktive verwendet werden, die ich akzeptiere, wenn da gerade einer spricht, der nicht unentwegt schwierige Wörter verwendet und schwierige Sätze baut (also alltäglich spricht, wobei man schonmal falsche Konjunktive verwendet), aber nicht bei einem, der usw. usf.

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Lou

13. September, 2009 um 00:08

Jeffrey Eugenides zum Todestag von David Foster Wallace im FAZ-Interview, 12.09.09:

„Als es erschien, fühlte ich, dass wir seit Pynchons »Enden der Parabel« darauf gewartet hatten, dass ein Buch kommen würde, das den Klang seiner Zeit einfängt. Für mich war das eigentliche Wunder die Stimme von Wallace, […]. Es klang anders – nicht wie Literatur, sondern wie die Gedanken im eigenen Kopf. […].
Und es war nicht allein der Klang dieser Stimme. Es war das Dilemma, das sie vermittelte: das einer Intelligenz, die versucht, sich auf eine hochtechnologisierte, hyperkommerzielle, hyperkapitalistische nahe Zukunft, die inzwischen leider zur Gegenwart geworden ist, einen Reim zu machen – und ihr zugleich zu entkommen. Wallaces Stimme ist die lustigste und traurigste, die man wahrscheinlich je hören wird. In ihrer frenetischen, slanghaften, erregten Art […], bildet sie sowohl die Krankheitsursache für den Zustand unseres Bewusstseins ab als auch die Krankheit selbst.“

… »My head is filled with things to say.«

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Robert Michael Wenrich

13. September, 2009 um 00:40

thx & chapeau

(s.o.)

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ulrich blumenbach

13. September, 2009 um 07:30

Uiuiui, wenn das so weitergeht, hab’ ich mit den laufenden Kommentaren zu meinen Übersetzungsentscheidungen bis Weihnachten ja einiges zu tun.

@Clemens Setz: „Ein wenig irritiert hat mich in dem Absatz das Wort ‚thalassofiziert’ […] woher kommt denn das Wort?“:

Das ist mein Neologismus. Ich habe meinen Aufzeichnungen zufolge (soll heißen, ich hab’ auch am Sonntagmorgen grad nicht die Zeit zu überprüfen, ob sich nach Überarbeitungen und Lektorat immer noch dasselbe Bild zeigt) schöne seltene Wörter wie die folgenden verloren: „coccyges“ („Steißbein“), „falcate“ („sichelförmig“), „fulgurant“ („blitzartig“), propinquous („angrenzend“) usw. Nach dem Prinzip kompensierenden Übersetzens habe ich diese Verluste wettgemacht, indem ich an anderen Stellen, wo im Original ‚normale’ Wörter stehen, deutsche Rarwörter eingefügt habe (natürlich nur, wenn die jeweilige Erzählerstimme es erlaubte): „Gynäkeion“ („gyno-entrance“), „Halluzinogenivore“ („ingester“), „Hämatemesis“ („bloody vomiting“), „kryptogen“ („ambiguous origin“), „Tragelaph“ („miscegenation“), „Oknophilie“ („clench“) usw. Wichtig ist, dass die Gesamtstillage, d.h. die Frequenz seltener Ausdrücke erhalten bleibt.

@Marcel Klugmann: „Ich habe mich gefragt, warum das Wort ‚stasis’ […] mal mit ‚Stillstand’ (US S. 13) übersetzt, an anderen Stellen aber als ‚Stasis’ belassen wird (in Fußnote 57 z.B.)“:

Darauf habe ich in einem Kommentar vom 10.9. schon hingewiesen: Weil ‚inkhorn terms’ im Englischen eine andere Stellung im Sprachsystem haben als Fremdwörter im Deutschen. Auch vergleichsweise ungebildete Menschen verwenden im angelsächsischen Sprachraum beispielsweise medizinische Fremdwörter, wo wir uns bei der Visite über das „Schauderwelsch“ (Arno Schmidt) der Ärzte aufregen. Ich werde mich hüten, bei Wallace auf Teufel komm raus grundsätzlich dasselbe deutsche Wort für einen englischen Ausdruck zu verwenden, sondern variiere die Synonyme je nach Stillage und Bildungsgrad des jeweiligen Sprechers / Erzählers – übrigens auch, weil uns schon im Aufsatzunterricht der Grundschule die ‚Schönschreibregel’ eingebleut wird, wonach häufige Wortwiederholungen in einem Absatz oder auf einer Seite zu vermeiden sind und als schlechter Stil gelten.

„warum […] in der indirekten Rede oft die falschen Konjunktive verwendet werden“:

Das sind keine „falschen“, sondern umgangssprachliche Konjunktive, die ich bewusst einsetze, damit der jeweilige Sprecher nicht auf dem Kothurn einherstelzt. Zeitgenössische amerikanische Autoren kommen oft verzerrt ins Deutsche, weil ihre Übersetzer glauben, um jeden Preis wie Botho Strauss und Peter Handke schreiben zu müssen. Sie wagen keinen deutschen Satz, weil das Ergebnis ja realistisch klingen könnte. Sorry, nicht mit mir.

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Iannis Goerlandt

13. September, 2009 um 10:48

@ Herrn Setz

Ich hatte es nur vorgeschlagen, weil ich glaube, Gatelys Traum kommt erst später im Buch. Aber tatsächlich: dies ist ein sehr gelungener (und wichtiger) Beitrag.

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Guido Graf

13. September, 2009 um 11:50

was ich vergaß: Gately träumt von der Zukunft. Hal, zu Beginn des Romans, spricht im Jahr des Glad-Müllsacks

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Clemens Setz

13. September, 2009 um 11:57

@ Ulrich Blumenbach: Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich werde Sie jetzt nicht mehr wegen einzelner Wörter belästigen.

Noch ein kleiner Nachtrag zu meinen DMZ-Überlegungen (s. o.). Das „In-der-Zone“-Sein, von dem Hal (ich glaube, Schtitt zitierend) am Telefon spricht und seine magische Müllkorb-Trefferquote beim Fußnägelknipsen haben mich an eine berühmte Erzählung erinnert, die die meisten kennen dürften:

„Ebenmaß, Beweglichkeit, Leichtigkeit – nur alles in einem höheren Grade; und besonders eine naturgemäßere Anordnung der Schwerpunkte.
Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraus haben würde?
Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, daß sie sich niemals zierte. – Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung.“

Und:

„Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet.“

(Aus: Kleist, Über das Marionettentheater)

Lassen sich Hals unbeteiligte Brillanz, die (paradiesische) Unschuld mit der er seine Nägel in den Papierkorb befördert, seine irgendwie hohl anmutende Tennis- und O.E.D.-Virtuosität durch den in jungen Jahren ingestierten Schimmelpilz (und durch die später hinzugekommene auffrischende Dosis DMZ) erklären?
Wenn er zu viel Bewusstsein in seine Handlungen hereinlässt, verliert er seine Gabe, wie im Beispiel des „rechten Fußes“.

Ein letztes Mal Kleist:
„Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?“

Baum der Erkenntnis = DMZ?
Wie würde wohl ein vollkommener Autist auf den Film Infinite Jest reagieren?

Wallace hat in seinem Essay „How Tracy Austin broke my heart“ beschrieben, wie unbefriedigend Sportler-Memoiren im Allgemeinen sind, wie leer und uneloquent ihre Selbstbeschreibungen vor allem in Bezug auf ihre Spielweise und ihre größten Triumphe auf ihn wirken.
Am Ende des Essays kommt er beinahe zum selben Ergebnis wie Kleist: „It may well be that we spectators, who are not divinely gifted as athletes, are the only ones able truly to see, articulate, and animate the experience of the gift we are denied. And that those who receive and act out the gift of athletic genius must, perforce, be blind and dumb about it – and not because blindness and dumbness are the price of the gift, but because they are its essence.“

Daraus ließe sich schon eine Diplomarbeit basteln: „Concepts of Innocence. David Foster Wallace and Heinrich von Kleist“ oder so…

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Guido Graf

13. September, 2009 um 12:14

Kleist:

hier müsste jetzt Hans Wedler in die Diskussion einsteigen –

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Marcus Klugmann

13. September, 2009 um 13:27

Vielen Dank für die ausführlichen Anmerkungen zu den Übersetzungsfragen, Herr Blumenbach; diese Fragen sollten ja nicht krümelkackenderweise zeigen, dass ich etwas besser weiß, mich interessiert vielmehr die Praxis des Übersetzens – die Sache mit dem ‚kompensierenden Übersetzen‘ fand ich sehr aufschlussreich.

Ihr Marcel K.

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ulrich blumenbach

13. September, 2009 um 17:28

Erstens eine thread-übergreifende Entschuldigung an Clemens Setz, Marcel Klugmann und Iannis Goerlandt dafür, dass mein Kommentar von heute morgen so ruppig war. Ich bin äußerst dankbar für die vielen Komplimente, die die Übersetzung hier schon bekommen hat und möchte weder als Mimose dastehen noch halte ich meine Übersetzung für sakrosankt. Unverständnis und/oder Kritik bitte ich also unbedingt weiter zu äußern. Ich bitte allerdings auch schon vorab um Entschuldigung dafür, dass ich vielleicht nicht immer so ausführlich darauf eingehen kann.

Zweitens hat Iannis / Herr Goerlandt (wir waren privat auch schon beim „Du“, oder Iannis? Aber wie Sie wünschen …) zwar schon in schöner Ausführlichkeit seine marginalienreiche Lektüre der Übersetzung begründet, ich möchte aber noch nachreichen, dass er vom Fach ist und gerade seine Übersetzung von Wallace’ Kreuzfahrt-Essay abgeschlossen hat. Das erklärt vielleicht, dass er die Lupe schärfer einstellt als andere Leser. Ich habe „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ in der Übersetzung von Marcus Ingendaay ähnlich penibel gelesen, um nachvollziehen zu können, wie ein solcher Jahrzehnt-, wenn nicht Jahrhundertübersetzer auf seine genialen Ideen kommt.

Drittens zu Clemens Setz’ Kleist-Zitaten: Helge Malchow erzählte bei der Veranstaltung im Hamburger Literaturhaus, er habe sich mit Wallace vor einigen Jahren sehr intensiv über deutsche Literatur unterhalten, Wallace habe sich als ungeheuer belesen erwiesen und unter anderem gesagt, Randy Lenz verdanke seinen Nachnamen der Erzählung von Georg Büchner. Wir müssen also zumindest nicht ausschließen, dass er bei der Schilderung von Hals Fußnägelknipserei die Schrift „Über das Marionettentheater“ im Hinterkopf hatte.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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