Bevor es losgeht, die simple, aber entscheidende Frage an sich selbst: Warum machst du hier mit? Antwort: Weil ich mir immer weniger Zeit nehme, genau zu lesen – was auch daran liegt, dass ich das Gefühl habe, dass seit ein paar Jahren Bücher immer schnell produziert werden und gar nicht mehr auf Dauer bzw. Langfristigkeit angelegt sind. Jedes Halbjahr kommt ein neues Programm, kommen hunderte von neuen Büchern – welche davon bleiben? Antwort, für mich persönlich: Ganz wenige. Es passiert mir immer seltener, dass ich das Gefühl habe, dass ich ein Buch wirklich ernst nehmen sollte.
Warum habe ich also dieses Gefühl bei „Unendlicher Spaß“ und nehme ich mir jetzt die Zeit, über 1500 Seiten zu lesen? Z.B. deshalb: Wallace entspricht so perfekt dem Bild eines coolen Autors, dass man „geneigter“ als sonst ist, sein Werk als interessant einzustufen. Vom Slacker mit sexy Look zum hochintelligenten Medienliebling, in den wenigen Youtubevideos, die es gibt, angenehm bescheiden und ehrlich, extrem tragisches Schicksal usw. Und dann die Vorschusslorbeeren von Leuten wie Franzen oder Delillo. Nicht zu vergessen seine Erzählbände, die alle für mich, ich gebe es zu, wie ein Versprechen klingen, aber noch nicht der große Wurf sind (für mich). Etüden, Spiele, manchmal zu angeberisch und selbstverliebt – aber immer ziemlich originell. Löst „Unendlicher Spaß“ dieses Versprechen ein? Der Gleichung Umfang = Anspruch nach zu urteilen jedenfalls mal schon. Oder ist das alles, inklusive, Entschuldigung, auch dieser Blog, ein Hype, ein Marketinggag, dem ich gerade erliege?
Denn dieses Paradox ist doch spannend: In einem Hauptseminar an der Uni bissen wir uns alle die Zähne aus an Wallace’ „Interviews“; manchmal war gar nicht klar, worum es inhaltlich eigentlich geht – nur eben soviel: dass das extrem effektvolle, scheinbar komplexe Literatur ist. Wie kommt es also, dass solche Texte, die mit zum schwierigsten gehören, was man zur Zeit lesen kann, eine regelrechte Jüngerschar nach sich ziehen und tausendfach verkauft werden? Liegt das allein am Text oder eben doch zu einem guten Teil an dem vom Leser, also von mir selbst, hineinprojizierten Umfeld? Wir werden sehen.

Thomas von Steinaecker ist ein deutsch-österreichischer Schriftsteller und Journalist. Bisher erschienen von ihm neben dem Hörspiel „Meine Tonbänder sind mein Widerstand“ (BR 2007) und dem Feature „Gescheiterte Existenzen oder Glückliche Erben?“ u.a. zwei Romane, „Wallner beginnt zu fliegen“ (2007) und „Geister“, beide mit Comics von Daniela Kohl. Am 10. August sendet ARTE seinen Dokumentarfilm „Stockhausen – Musik für eine neue Welt“. Auszeichnungen, u.a. Aspekte-Preis 2007, Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2007, Bayerischer Kunstförderpreis 2007, Förderpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft 2008.

8 Kommentare zu Vor der Show

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Guido Graf

11. August, 2009 um 18:14

„You know, in a weird way, there’s really only one basic problem in all writing — how to get some empathy with the reader. And that problem is a jewel on which there are many facets. And this is a somewhat different facet — how to take this very, very abstract stuff, boil it down so that it fits in a pop book, and give the reader enough of the real story so that you’re not lying to him, but also to make it clear enough so that it’s not just understandable but halfway enjoyable for somebody who hasn’t studied math for 20 years.It’s really not completely different from the question, how do you get a reader to inhabit the consciousness of a character who, say, isn’t a hero or isn’t a very nice guy, and feel that person’s humanity and something of his 3-D contours while not pretending that he’s not a monster.“

David Foster Wallace in einem Interview über „Everything and More: A Compact History of Infinity

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Cara

15. August, 2009 um 22:50

„Vor der Show“ ist auch eine gute Gelegenheit, um auf „David Foster Wallace on Bookworm “ hinzuweisen.

Fans und Freunde von David sollten die Website von kcrw besuchen, dort kann man verschiedene Radiobeiträge mit Interviews nachhören.
Die Aufzeichnung vom 26. November 2008 enthält ein Gespräch mit ihm aus dem Jahr 1996, kurz nachdem „Infinite Jest“ in den USA veröffentlicht worden war.

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Daniel Rogge

17. August, 2009 um 21:05

Interessantes Projekt. Gerade bei diesem Buch ist der Gedanke es ein Stück weit “ öffentlich “ zu lesen und die Option auf Diskurs und Meinungsaustausch zu haben ganz besonders reizvoll. Bin gespannt auf den Verlauf und hoffe auf rege Beteiligung.

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Matthias

17. August, 2009 um 21:55

Wenn wir hier gute DFW Interviews empfehlen, das Salon Interview ist sehr gut und bezieht sich stark auf Infinite Jest.

http://www.salon.com/09/features/wallace1.html

Eine Frage, gibt es nur die Blogposts oder werden auch Foren eingerichtet?

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Guido Graf

18. August, 2009 um 09:22

Eine Frage, gibt es nur die Blogposts oder werden auch Foren eingerichtet?

nein, Foren sind nicht geplant

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Alban Nikolai Herbst

30. August, 2009 um 22:36

Liegt es nicht immer – zumindest a u c h – am hineinprojezierten Umfeld? Benn hat sich da positioniert: „Klassiker werden gemacht.“ Selbstverständlich sind, mit vielen vielen anderen, wie hier Teilchen solchen „Machens“. Das sollte jedem in dem Moment klarsein, in dem er mittut. Es spricht nicht für das Buch, nicht gegen das Buch. Möglicherweise wird „das Buch“ niemals berührt, was immer einer von uns oder anderen tut; denn diesen „Text-selbst“ gibt es nicht.

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Martin Jost

3. Oktober, 2009 um 18:21

»Es passiert mir immer seltener, dass ich das Gefühl habe, dass ich ein Buch wirklich ernst nehmen sollte.« Ich denke, das ist eine verbreitete Erfahrung. ABER: Liegt es wirklich daran, dass die ganze Literatur (»all generalisations are bad« – Graffiti) immer weniger sorgfältiger geschrieben und schlampiger lektoriert würde? Oder ist es einfach nur eine allgemeine Erfahrung des lesenden Menschen, dass er seine »Kunstkompetenz« (analog Medienkompetenz) schult und immer schwerer zufrieden zu stellen ist? Und traf und trifft es nicht schon immer zu, dass nur die Spitze des Eisbergs aus jeder Literatur aller Zeitalter wertvoll ist? Und dass es kluge Lotsenarbeit (kritische Presse) und Navigation (Leser-Erfahrung) braucht, um von einem Eisberg zum anderen zu knirschen und sich nicht damit zufrieden zu geben, dass auf 99 gelesene miserable Bücher nur ein lesenswertes kommt?

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Stephan Bender

5. Oktober, 2009 um 10:44

@ Martin Jost:

Gute Frage! Darüber habe ich auch lange nachgedacht. Selbst wenn man den radikalsten Ansatz wählt und die freheitlich-demokratische Grundordnung mit ihren verlogenen, politischen, menschlichen Beziehungen literarisch in Grund und Boden rammen will, wohnen auf diesem Planeten immer noch 4-5 Millarden Menschen, die gern mit mir tauschen würden.

Freiheit – in welcher Form auch immer -, ist das höchste Glück, das einem Menschen widerfahren kann.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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