6./7. November

8. November 2009 |

6. November

12.30. Am Wasser. Der Gnom hustet. Ich huste. Vitamin-C-Brausetablette. Graumausiges Wetter. Das Emerson Quartet spielt sich durch die Kunst der Fuge. Wenn das Wetter noch schlimmer wird, pack ich die Matthäus-Passion aus.
Höchste Zeit für einen Aufenthalt auf der Felsnase nordwestlich von Tuscon, Arizona, USA. Wir schreiben den 1. Mai im Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche, also umgerechnet im Jahr 2009. Das Wetter ist schön. Und was jetzt kommt, hab ich leider doch schon gehört. Damals (damals! Ist gerade mal ein Monat her) in Köln. Da hörte es sich ungefähr so falb an wie diese Leberwurst von Dunst da draußen. Steeply erzählt, wie sein Vater abhängig wurde von einer Militärsatireserie namens „M*A*S*H*“, die ich auch mal für fünf Minuten gesehen hab später. „Catch 22“ fand ich besser. Aber M*A*S*H* war Kult. Jedenfalls gewährt uns die Diskussion mit dem bemerkenswert zurückhaltenden Marathe einen Einblick in die, wie könnte es anders sein, dysfunktionale Familie Steeply. Vater Steeply wird immer irrer, zitiert M*A*S*H*, erklärt alles in Bezug auf M*A*S*H*. Vater Steeply erfindet das M*A*S*H*-zentrierte Weltbild und notiert wie ein Wilder in ein paulaustereskes Notizbuch.
Einschub: „Im Gegensatz zur Gewalt und transpercanten Punktierung des Sonnenuntergangs schien di Morgensonne von den runderen Vorsprüngen der Rincon-Hügelkette langsam ausgeatmet zu werden, ihre Wärme war eine tauigere Wärme und ihr Licht das vage Rot einer zärtlichen Empfindung.“
Auch so eine Suchtgeschichte. Vater Steeply entwickelt Verschwörungstheorien. Vater Steeply ist auf dem Weg in die saloppe Katatonie ganz ohne Patrone, vor der Patrone. Und Mummykins (Mutter) Steeply hält sich als Fels in der M*A*S*H*-Brandung nur mit Unterstützung von Medikamenten. Vater Steeply glotzt M*A*S*H*, wo immer ers herkriegen kann und bekommt denn auch sein Lebenslicht bei einer Wiederholung ausgepustet. Ein zähes Geschäft ist das für eine Felsnadelgeschichte. Nimmt erst am Ende wieder Fahrt auf. Marathe und Steeply trennen sich, versuchen zu fassen, was in den Augen der von Unterhaltung-Getöten zu sehen ist: „Stecken geblieben. Fixiert. Festgehalten. Gefangen. Wie in einer Art Mitte gefangen. Zwischen zwei Dingen. In verschiedene Richtungen gezogen.“ Marathe: „Zwischen verschiedenen Begierden von großer Intensität bedeutet das.“ – „Gar nicht mal so sehr Begierden. Leerer als das. Als wäre er beim Wundern stecken geblieben. Als gäbe es da etwas, das er vergessen hätte.“ – „Verlegt. Verloren.“ – „Verlegt.“ – „Verloren.“ – „Verlegt.“ – „Meinetwegen.“ – Groß.
Der Gnom. Der Husten. Muss jetzt Schluss machen.

7. November

15.30. Es ist kalt. Es riecht sanft nach Fäulnis. Mein Gingko espt hinter mir die letzten Blätter ab. Ein paar Blesshühner tunken sich vorbei. Zauberbergdecke über den Beinen, Mütze auf. Tee an der frischen Luft. Der Husten ist mir egal. Gleich muss ich weiterharken. Das beruhigt die Nerven wahnsinnig. Hätte ich auch nicht gedacht. Ejal.
Kommts mir nur so vor oder komm ich dem Spaß immer näher? Wir schreiben jetzt den 13. November. Es ist Nacht in Ennet House. Day erzählt von der Geburt seiner Depression aus dem eisigen Hauch eines Ventilationsgeräts. Aus der Resonanz eines Ventilators bauscht sich eine dementorenhafte große, dunkle Form auf und umfängt seine Seele. Formlos. Er ist zehn. Er wird’s nicht wieder los. Und er versteht, was Hölle meint. Das ist eine Variation dieses schrecklich erhellenden Depri-Text von Kate Gompert. „Es gibt nichts, was sich schlimmer anfühlen könnte.“ Es mag ja despektierlich sein, aber warum versucht sich DFW hier in einer Wiederholung. Gompert war unschlagbar. Das hier ist eine düstere Flatulenz dagegen.
Schauplatzwechsel. Wir sind wieder auf dem Court. Hal und Ortho „Der Schatten“ Stice sollen sich duellieren. Aubrey deLint (dessen Lächeln berüchtigt ist, „sein Gesicht zerfiel in Sicheln und Scherben und zeigte keine Spur von Heiterkeit“) und Steeply als mammutige Homestory-Verfasserin für „Moment“ schauen zu. Und wir. DFWs literarische Analyse eines Aufschlags ist hinreißend. Aber wer mag schon literarische Analysen eines Aufschlags. Deswegen wird noch mehr hineingeschnitten jetzt. DeLints Debatte mit Mammut-Steeply, der vollkommen unübersichtliche Spielverlauf, Gately schnarchend weiter unten den Hang hinunter in Ennet House, Poor Tony Krause in seinem Klo, Pemulis beim Lernen, Orin beim sonnenumfluteten Sex mit seinem Handmodell. DFWs Kameraauge schweift weit aus. Und wieder zurück auf das harte Feld der Ehre. Hals Aufschlag und Spiel (wie Schach im Laufschritt!) wird analysiert. Und Aubrey deLint versucht Steeply (und uns) zu erklären, was die Academy mit ihren Schülern tut. Sie in Killer verwandeln. „Diese Jugendlichen, von denen sind die besten hier, um sehen zu lernen. Schtitts Devise lautet Selbsttranszendenz durch Schmerz. Diese Jugendlichen hier, sind hier um in etwas Größerem als ihnen selbst aufzugehen.“ Und das Wichtigste: „Den Besten von denen das Gefühl einzuschärfen, dass es nie darum geht, gesehen zu werden. Niemals. Wenn man ihnen das einschärfen kann, dann macht die Show sie nicht kaputt.“
So macht selbst Tennislesen Spaß. Aber wenn ich jetzt nicht gleich die Harke wieder aufnehme, seh ich kein Blatt mehr. Morgen wird weiter gespielt.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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