Angst & Feuer

1. September 2009 |

„Es gibt so etwas wie politischen Sex.“ (S. 133)
Die Fahne von Schalke 04 flattert an der in der Gärtnerei angebrachten Stange. Entfernung vom Point of View circa 300m. Den Großteil des gestrigen und heutigen Pensums U.S. habe ich auf einem Liegestuhl auf der Terrasse meines Vaters gelesen. Emmerich, Niederrhein. Am Abend, als ich ungefähr auf Seite 170 war, „Aufmerksamkeit, Befangenheit, der quasselnde Kopf, die schnatternden Stimmen, die Versagensangst, Angst versus alles, was nicht Angst ist, Selbstbild, Zweifel, Widerstände, wortkarge bange Männchen im Kopf, die sich über Angst und Zweifel und Schwachstellen in der geistigen Rüstung ausmären“, entzündete ein Nachbar ein offenes, unangemeldetes Feuer auf dem Feld. Äste, Laub, Sperrholz. Ein schönes, offenes Feuer, das auch ein wenig angsteinflößend war. Die Luft schien zu schmelzen. Es vergingen keine drei Minuten, bis Sirenen erklangen und die örtliche Feuerwehr ins Feld gefahren kam und gleich zu löschen begann. Es wird ein Protokoll geben, die Nachbarn standen noch minutenlang um den gelöschten Brandherd, die Feuerwehr zog mitsamt Streifenwagen wieder von dannen, und redeten in diesem niedlichen Mischmasch aus Deutsch, Niederländisch und Plattdeutsch über das große, selbstverschuldete Ereignis; gleich wurde ein Schuldiger gesucht, gleich wurde der andere niederländische Nachbar des verratenden Notanrufs verdächtigt, gleich wurde beratschlagt, wie man um die hohe Strafe herumkäme. Lösung: Kasten Bier. Am Freitag einen Kasten Bier bei der freiwilligen Feuerwehr vorbeibringen, das hilft dann schon.
Ich habe schon wieder ein Déjà-vu.
Natürlich machen in diesem Blog alle, was sie wollen. Wäre ja auch noch schöner. Natürlich quasselt man, schnattert man, und natürlich hat man unbedingt Lust, selbst eine Kiffergeschichte zu erzählen, zum Beispiel vom eigenen ersten Mal, das mit Uta, in die ich immer leicht verschossen war, in ihrem Mädchenzimmer im Abitursommer 1991 statthatte. Sie hatte was da. Da wir beide noch sehr ungeübt waren, mussten wir das Ding mit Prittstift zusammenkleben. Es hielt sonst nicht. Uta lag anschließend paralysiert auf dem Zimmerboden, während ich kaum etwas merkte und nicht wusste, was ich tun sollte. Die sexuelle Spannung war gleich mit verpufft. Uta schmiss mich kurz darauf raus. Sexuelle Repression wurde noch sehr oft mit Kiffen ausgeglichen, meinerseits, später, jahrelang, in Phasen.
Die Bändchen lösen sich allmählich auf. Auf Seite 132 kam das erste Insekt ums Leben. Es hinterließ einen kleinen roten Fleck.
(Stand: S. 194)

5 Kommentare zu Angst & Feuer

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Thorsten Krämer

1. September, 2009 um 21:33

Hallo René, danke für den Satz: „Natürlich machen in diesem Blog alle, was sie wollen.“ Das ist natürlich eine Steilvorlage, die hoffentlich auch für die Kommentare gilt. Deshalb:

Heute, nach 55 Seiten der US-Ausgabe, ist mir klar geworden, was mir an Infinite Jest von Anfang an nicht gefallen hat: Das Buch inszeniert den Roman als freak. Der freak aber ist keine allgemeine Kategorie, anders etwa als das Monster, sondern eine rein amerikanische Erscheinung. Um in den USA als freak zu gelten, braucht es nicht viel – der rigorose Rahmen der puritanisch geprägten Gesellschaft ächtet bekanntlich schon kleinste Abweichungen. (Ende der 80er Jahre erzählte mir eine Mitschülerin nach ihrem Amerika-Aufenthalt, sie sei schon schief angeguckt worden, weil sie alleine getanzt habe.)
Es versteht sich von selbst, dass jeder Mensch mit künstlerischen Ambitionen automatisch als freak gilt, aber ich erwarte, dass ein Autor irgendwann auch einmal jenseits dieser Dichotomie operiert. Bei DFW ist das leider nicht der Fall, im Gegenteil: Infinite Jest ist eine einzige Selbstbezichtigung (im Sinne des Signifying): Schaut her, ich bin sogar im Reich der Literatur noch der freak, ich schreibe einen 1000-Seiten-Roman, der so spröde, so anders, so weird ist, dass viele sagen werden, er sei schlechterdings unlesbar.
Tatsächlich ist diese Konzeption schlicht langweilig, weil sie nur Sinn macht vor einem kulturellen Hintergrund, der in seiner Schwarz-Weiß-Malerei selbst schon unendlich langweilig ist. So erinnert mich das Buch von seiner Anlage her sehr stark an den Film American Beauty (der ja auch nicht wenige Fürsprecher gefunden hat): Auch dort gibt es den freak, der mit seiner Videokamera eine Plastiktüte im Wind filmt und das als Aufhänger für nur schwer zu ertragende Überlegungen über das Leben nutzt, die selbst Hermann Hesse mit den Ohren schlackern ließen.
Von solchem Kitsch ist Infinite Jest zum Glück frei, es arbeitet mit anderen, düsteren Farben. Trotzdem schimmert stets dasselbe Gesellschaftsbild durch, ohne dass der Text vordringen würde in eine kulturübergreifende Relevanz, will heißen: Das Buch sagt mir nichts darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein – es plappert bloß endlos darüber, was es heißt, ein unverstandenes Talent in einer kleingeistigen Kultur zu sein. Das ist gewiss kein schönes Los, es kann, wie DFWs Biographie zeigt, im schlimmsten Fall tragisch enden; aber früher oder später verengt sich der Horizont einer solchen Haltung dermaßen, dass er auch nicht weiter reicht als der Horizont derer, gegen die sie sich richtet.
Wie gesagt, ich bin erst bei Seite 55 der US-Ausgabe, vielleicht kann mir ja jemand gute Argumente dafür liefern, die Lektüre fortzusetzen. Ansonsten fange ich jetzt lieber an, Bolanos 2666 zu lesen.

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Alban Nikolai Herbst

2. September, 2009 um 06:13

Lieber Thorsten Krämer,
ich las Ihren Kommentar eben erst (2.9., 5.55 Uhr); vielleicht hilft mein kleiner innenpoetologischer Interpretationsansatz Ihnen über den ersten, ich finde: sehr richtigen, Eindruck hinweg; witzig ist, daß wir beide >>>> die S. 55 wie einen Einschnitt markieren, Sie, weil alles danach noch vor Ihnen liegt, ich, weil ich das davor nun ziemlich endlich überstanden habe (und hoffe, es ist mit dem Überstehen damit getan; ich bin gegenüber dem, was Sie kritisch bemerken, ebenfalls hochgradig heikel). Bedenklich – im Wortsinn – ist allerdings, daß die US-puritanische Gemüts- und Sozialverfassung zu uns Europäern in einer, sagen wir: selbst noch ums Anglikanische exorzierten Form zunehmend mehr herübergecleant wurde und sich als „correctness“ politisch säkularisiert hat. In ein paar Jahren wird man möglicherweise hierzulande („-zukontinents“) ganz ebenso schnell für einen Freak gehalten werden wie dort; insofern ist Ihrem Einwand mit durchaus zukunftsängstlichem Kopfwiegen zu begegnen.

Gruß, ANH.

Den Link auf meinen Text von heute nacht lege ich nicht, weil ich befürchte, Sie würden ihn andernfalls nicht lesen, sondern weil er es etwaig späteren Lesern erleichtert, Bewegungen in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu verfolgen, ohne erst lange die Suchfunktion durchprobieren zu müssen.

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Mark Z.

2. September, 2009 um 08:39

„Der freak aber ist keine allgemeine Kategorie, anders etwa als das Monster, sondern eine rein amerikanische Erscheinung. Um in den USA als freak zu gelten, braucht es nicht viel – der rigorose Rahmen der puritanisch geprägten Gesellschaft ächtet bekanntlich schon kleinste Abweichungen. “

Diese Wahrnehmung würde ich so weder im Allgemeinen, noch an diesem konkreten Punkt so stehen lassen. Es mag sein, dass sich das Buch auf „den Freak“ spezifiziert, sich Wallace selber so darstellt. Aber doch nur, weil es so ist.

Denn die immer weiter zunehmende Individualisierung und Isolierung einer Gesellschaft, wie der U.S.-amerikanischen führt irgendwann dazu, das jede Person ein Freak ist. Nicht nur die, die alleine tanzt, sondern auch die, die mit vielen tanzen. Und auch die, die gar nicht tanzen. Die einen sind durch ihr auffallendes Partying ausgegrenzt, andere durch ihre „Wahre Liebe wartet“-Mentalität. Je nach Blickwinkel. Und trotzdem sind (fast) alle durch diese Ausgrenzung wieder eingebunden in diese „Freak-Kultur“.

Und deshalb stellt der Roman von Wallace tatsächlich ein realistisches Abbild dar – seine Methode mag überzogen sein, doch nur Weniges des bisher gelesenen (ca. 220) beschreibt singuläres Freaksein. Immer beschreibt Wallace dann doch das Cluster, das dahinter steht.

Meiner Meinung nach fällt eben Hal aus dieser Rolle etwas heraus, da er einen Anknüpfungspunkt sucht in dieser individualisierten und zugespitzen Gesellschaft. Er ist einer, der sich „sein Freaksein“ nicht ausgesucht hat, sondern tatsächlich außergewöhnlich ist. Und mehr und mehr fällt ihm diese zur Show gestellte Andersartigkeitsbemühung seiner Umgebung auf (siehe Telefonat mit Orin), aber er merkt, wie wenig dieses Schema durchbrochen werden kann.

Wenn ich das jetzt mal ganz subjektiv weiterspinne, würde ich Wallace auch eher „unterstellen“, dass dieses erwartete Freak-Werden und -Sein beschäftigt hat, weniger, dass er es nicht ist. Selbst ein Roman von Franzen weist immer eine Menge skuriller Figuren auf – und dazu wesentlich mehr explizites.

Ich würde also aus den gleichen Beobachtungen ganz andere Schlüsse ziehen. Und weiterlesen. :) Und eben den Stempel des Freakbuches beiseite legen. Das ist es nicht. Zumindest nicht bisher. Auch wenn es gerne dazu gemacht wird (ähnliches Stigma bemängeln ja auch die Diskussionen über das Ironieverhältnis und die Rolle Wallace‘ als Suizide-Author hier auf dieser Seite.)

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René Hamann

2. September, 2009 um 14:04

Das zweite Insekt kam heute Morgen auf Seite 197 ums Leben.
Der Roman als Freak – das stört mich nicht, auch nicht im Fall U.S., und langweilig per se kann ich das auch nicht finden. U.S. ist ja nicht Finnegans Wake. Manchmal, und ich denke besonders an den Monolog des Junkies ab Seite 185, möchte der Roman Ulysses sein, aber das ist legitim, und wo es gelingt auch nicht langweilig. Was manchmal stört, ist dem Roman allerdings schon von außen anzusehen: Er pfeift auf Ökonomie. Der Grundverdacht der Selbstgefälligkeit im Freaksein ist in manchen Passagen gar nicht so falsch. DFW setzt beispielsweise Fremdwörter an Stellen ein, an denen besser gar kein Wort gestanden hätte. Er gefällt sich in Manierismen, er gefällt sich in dem ganzen ausgebreiteten Technikkrams, in den Fußnoten, in der Aufzählung von pharmazeutischen Produkten usw. usw. Ein hartes, strenges Lektorat, und es hat ja schon eins gegeben, die ursprüngliche Fassung soll ja noch länger gewesen sein, hätte den Roman bestimmt auf 500 Seiten runterkürzen können. Der Pfiff auf die Ökonomie geht natürlich auch mit einem Pfiff auf Eleganz und Stil einher; mit Altmeistern wie Cheever oder Roth ist das hier natürlich gar nicht zu vergleichen. Von DFWs GenerationskollegInnen würde ich vielleicht auch Zadie Smith bevorzugen. So generell. Trotzdem schafft es U.S. immer wieder, eine Weltpanik zu erzeugen, eine Untergangsstimmung, einen verstärkten Wunsch nach Medikation und Betäubung, und gleichzeitig Bewunderung im Maelstrom, sozusagen. Wallace oder Bonero, Beatles oder Stones, das ist nicht die Frage, jedenfalls für mich nicht. Für mich ist die Frage: Wo führt das alles hin. Dass Wallace oft nur mit Wasser kocht, noch dazu mit abgestandenem (die Urban Legends seien noch einmal erwähnt), beruhigt auch. Die ganze ausgestellte Freakyness beruhigt. Es ist nicht der Roman eines unerreichbaren Wunderkinds, eines Hyperintelligenten, er tut bloß so. Der Roman als Freak – für mich ist U.S. eher ein Fall von der Roman als Nerd. Als solcher hält er mich aber gut an der Stange und versöhnt mich mit großartigen Passagen: Kate Gompert. Und Tennis als Welterklärungssport.
„Ihre Zähne bekundeten die von klinisch Depressiven traditionell vernachlässigte Dentalhygiene.“ (S. 109)

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Thorsten Krämer

5. September, 2009 um 12:17

Lieber Alban Nikolai Herbst,
ich muss Sie leider enttäuschen: Wir sprechen nicht von derselben Seite 55, meine befindet sich in der US-Ausgabe, an der Stelle ist Orin schon vom herabfallenden Vogel überrascht worden (im Original macht er übrigens ebenfalls „plop“) und auch der ETA-Bauplan ist bereits erläutert worden. Bislang hat mich das Buch leider noch nicht, aber ich werde trotzdem die Lektüre fortsetzen, denn:

@Mark Z.
Ich muss zugeben, dass mich ebenfalls interessiert, wie es mit Hal weitergeht, ich merke beim Lesen, dass ich immer vorblättere um zu schauen, wann er mal wieder in den Mittelpunkt gestellt wird. Danke also für die Aufmunterung ;-)

@René
Freak oder Nerd, das ist in der Tat eine knifflige Entscheidung. Das ausgestellte Wissen lässt einen eher in Richtung Nerd denken, aber was mir fehlt, ist die Zwanghaftigkeit, mir ist das bis jetzt alles viel zu lax und ausufernd, deswegen plädiere ich vorerst weiterhin auf Freak…
Wo führt das alles hin – die Frage beschäftigt mich auch. Meine Sorge ist nur, dass die Antwort lauten könnte: zu nichts.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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