Meer am 9.9.9

20. September 2009 |

Keiner am Strand macht den Eindruck, jemanden enthaupten zu wollen. Scandlines ist auf dem Weg übers Binnenmeer: Die Heckklappen sind noch offen. Der Strandkorb kostet drei Euro in der Stunde und muss nach Benutzung in die Ausgangsposition geschoben werden. Die Sonne gähnt schon früh am Nachmittag. Die Familie vor mir stellt sich zu einer dreistufigen Pyramide auf, außer der Mutter, die alles im Bild festhält. Das twittert dann durchs All für alle.
Ich habe die Vorstellung, es könnten gleich Blutfontänen aus der Lachmöwe spritzen, die zwischen der Familie und mir im Sand stolziert und eklig groß ist. Poor Rony Krause auf Entzug zwingt mich zu solchen Gedanken.
Ich dachte auf dem Weg nach Warnemünde, im Standkorb gelänge es mir, einsdreifix auf S. 500 zuzuschreiten, aber dann kommt Anmerkung 110 und ich bleibe auf S. 448 kleben.
Während Hal seinem verliebten Bruder Orin Nachhilfe in Separatismus gibt, fällt mir das Gespräch mit T. vom Vortag ein, in dem es auch um nationale Eigenständigkeit ging. T., aus den baltischen Wäldern angereist, ist einer der intelligentesten Menschen, die ich kenne. Das Nachwendepersonal an den ostdeutschen Unis konnte das nicht ertragen, das Baltikum schon.
T. kennt sich aus mit dem Selbstbewusstsein kleiner Völker, vor allem im Ostseeraum, die jahrhundertelang von großen Nationen beherrscht wurden und mühsam ihre Sprache wiederfinden mussten. Mündlich überlieferte Volksdichtungen wurden gesammelt und zu Nationalepen zusammengesetzt, interessanterweise arbeiteten mehrere dieser Textsammler als Landärzte, vielleicht weil sie soviel herumkamen auf den Dörfern. Die finnische Kalevala hat Elias Lönnrot aus Tausenden vor allem in Karelien gesammelten Liedern, Sagen und Zaubersprüchen zu epischer Einheit zusammengekittet. Um zum Epos geadelt zu werden, bedurfte es aber des Zuspruchs von Jacob Grimm, der durch die Sammlung der Kinder und Hausmärchen als Experte galt, weit über die deutschen Grenzen hinaus. Auch das estnische Epos Kalevipoeg und das lettische Lacplesis mit seinen bärenstarken Haupthelden haben eine ähnliche Entstehungsgeschichte. Haben die Separatisten von Quebec nicht wenigstens eine Hymne?
Als ich gegen Abend den Strand verlasse, steht die fette Lachmöwe auf dem Dach von Strandkorb 117, unblutig, aber unbeweglich, als sei sie aus einem dieser Kunstgewerbeläden, die es hier überall auf den Strandpromenaden gibt.

Danach bin ich nicht mehr dazu gekommen, weiterzulesen, sieht man mal von den zwei Seiten vor dem Einschlafen ab, die ich am nächsten Abend noch einmal lesen muss, weil ich alles vergessen habe. Ein ewiges Verweilen auf Seite 468.

12 Kommentare zu Meer am 9.9.9

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Guido Graf

20. September, 2009 um 10:37

OT: der 100. Eintrag…

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Clemens Setz

20. September, 2009 um 13:45

Meine Frage wäre: Hat Orin tatsächlich nicht bemerkt, dass die Journalistin Helen Steeply der verkleidete Hugh Steeply (mit seinen schielenden falschen Brüsten und dem schlechten Make-up) ist? Ist er wirklich auf den Undercover-Transvestiten hereingefallen? Aber gut, wer weiß, wie sexy Hugh Steeply in Frauenkleidern wirklich aussieht…

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Thomas von Steinaecker

21. September, 2009 um 08:48

In der Erzählung „Die Verlobung in St. Domingo“ von Heinrich von Kleist ändert sich mitten im Text der Name der Hauptfigur von Gustav in August. Heute gilt es in Germanistikseminaren als schick, diesen Namensshift erklärbar zu machen – sei’s psychoanalytisch, poststrukturell etc. Dass Kleist, der ja bekanntlich ein eher unstetes Leben führte, einfach nur ein Fehler unterlaufen sein mag, wird nicht gerne gehört, auch wenn es die objektiv einleuchtendste Erklärung ist, die allerdings dem unendlichen Spaß der Theorien ein jähes Ende setzt. So kommt es zu einem seltsamen Phänomen: Texte, denen die literaturwissenschaftliche Absolution erteilt wurde, gehen in den Zustand der Makellosigkeit über, weil alles in ihnen aufgrund ihres Status als Meisterwerk der Interpretation für wert geachtet wird. Siehe US.

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Guido Graf

21. September, 2009 um 11:17

Ich bin mir nicht sicher, ob das Gustav/August-Anagramm bei Kleist wirklich als Beispiel taugt, den Kaiser als nackt vorzuführen. Dazu müsste erst mal die Inthronisation bekannt werden und die ist zumindest mir noch nicht begegnet. Im Gegenteil kenne ich kaum ein Buch, in dem mehr mit Fehlern und ihrer – um mit Kleist zu sprechen – unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeit gespielt würde.

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Clemens Setz

21. September, 2009 um 10:35

@ Thomas
Na ja, du hast schon recht, aber zu Kleists Zeiten gab es auch noch keine Lektoren (im heutigen Sinn). Ich glaube eher nicht, dass es sich hier um ein Versehen von Wallace handelt. Infinite Jest war ein wirklich „heavily edited“ Manuskript, einen Aufsatz über die Unterschiede zwischen dem um hunderte Seiten längeren Erstenfwurf und der veröffentlichten Version, findet sich irgendwo auf der Webseite „The Howling Fantods“ (ist ganz amüsant zu lesen, wenn’s einen interessiert). Aber trotz des gründlichen Lektorats finden sich im Roman immer noch einige kleinere Versehen, die ebenfalls von hingebungsvollen IJ-Fans auf Webseiten gesammelt werden. Irgendwo steht mal z.B., dass die Wahrscheinlichkeit, dass das Port-Washington-vs.-Enfield-Turnier 54-zu-54 ausgeht, 1/2^27 ist, was in Wirklichkeit viel größer ist (das ist übrigens nicht meine Entdeckung, ich hab’s auf einer Webseite gefunden, obwohl es mir, zugegeben, kurz in den Fingern gejuckt hat, die Wahrscheinlichkeit selbst nachzurechnen, aber das war mir dann doch zu albern…).
Dass Texte, die einmal als Klassiker definiert werden, automatisch in den Zustand der Makellosigkeit übergehen, ist zwar gerade in der Germanistik sehr oft zu beobachten (etwa in der Sebald-Forschung), aber doch nicht immer wahr. Bei Proust zum Beispiel hat die Forschung schon erkannt, dass ihm beim Schreiben von „Auf der Suche…“ einige Fehler unterlaufen sind. Drei Figuren sterben zweimal, mit jeweils unterschiedlichen Todesarten. Einmal vergisst er sogar, dass eine Figur schon tot ist und lässt sie in einem Gespräch vorkommen. Und, wenn ich mich richtig erinnere, verwechselt er auch einmal einen Namen oder schreibt ihn anders. Natürlich haben manche Proust-Experten dann versucht, diese Fehler in Absicht zu verwandeln, mit dem Argument, es gehe in dem Buch ja um Erinnerung und Proust wolle damit eben die Unverlässlichkeit menschlicher Erinnerung inszenieren. Aber durchgesetzt hat sich das, glaube ich, nicht.
Auch Shakespeares Stücke sind – angeblich – voller Fehler, vor allem bei historischen Stoffen.

Es gibt eine Anekdote über Glenn Gould, der einmal in einem Aufnahmestudio die „Kunst der Fuge“ aufgenommen hat und dann gegen Ende des letzten Stücks, das bekanntlich mitten drin abbricht, weil Bach es nicht mehr vollenden konnte, plötzlich gesagt haben soll: „Da, sehen Sie, da hat er einen kontrapunktischen Fehler gemacht“. Der Aufnahmeleiter war durch diese Bemerkung angeblich völlig entsetzt, der heilige J. S. Bach, ein Fehler!
Das Aufzeigen von Makeln in angeblich makellosen Kunstwerken ist ein äußerst subversiver Akt, besonders heute.

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Roadrunner

21. September, 2009 um 12:58

@Thomas von Steinaecker. Sie haben hier ja schon mehr als deutlich werden lassen, dass sie US für einen Hype handeln. Nur Wissenschaftlichkeit besteht eben nicht in der Erteilung von Absolutionen oder der Verweigerung derselben, sondern – so zumindest ein Gerücht – im Falsifizieren von Hypothesen. Anders gesagt: Der Verdacht, dass überhaupt nichts dran ist, ist genauso schlicht, wie der, dass alles miteinander zusammenhängt.

@Clemens Setz: Offenbar geht Orin dem Ganzen auf den Leim (zumindest nach dem was sich bis S. 762 darüber erfahren lässt). Wir können also entweder glauben, die Verkleidung funktioniert in Orins Augen oder die Faszination ist so groß, dass er Auffälligkeiten übersieht. Zumindest redet er in der berüchtigten Anmerkung 110 ja oftmals von der Horizonterweiterung in jeglicher Hinsicht. Was sich subtil andeutet ist, dass Orin in Steeply eigentlich (und selbstverständlich unbewusst) seine Mutter respektive seinen Vater sieht. Zumindest gibt die Körperhaltung Avril Incandenzas Anlass, in diese Richtung nachzudenken:

„Avril rauchte immer mit erhobenem Raucharm, dessen Ellenbogen in der Beuge des anderen Arms ruhte. Auf diesselbe Weise hielt sie oft eine Lulle, ohne sie anzuzünden […]. Als sie an jenem Abend mit dem Steißbein an etwas lehnte und an ihren Beinen entlangsah, erinnerte ihre Haltung erschreckend daran, wie Er Selbst dazustehen pflegte.“ (S. 753f.)

Steeply selbst bedient sich zur „Herstellung eines Weiblichkeitseffekt“ (621) der gleichen Haltung:

„M Hugh Steeply vom B.S.S. stand da, sein ganzes Gewicht lagerte auf eine Hüfte, und er sah am weiblichsten aus, wenn er rauchte, den Ellbogen mit dem andern Arm stützte, die Hand zum Mund führte und den Handrücken Marathe zuwandte, eine Art pingeliger Ennui, der Marathe an Frauen mit Hüten und wattierten Schultern erinnerte, die in Schwarzweißfilmen rauchten.“ (622)

Die Analogie Steeply-Avril betriftt natürlich auch den Intellekt und die „imposante Statur“ (738).
Orin verwendet übrigens auch – aber das nur nebenbei und weil es mir aufgefallen ist – im Fußnote 110-Gespräch die Wendung der Moms/Avrils von den Glucksern (vgl. 1443 und 1456).

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JesusJerkoff

21. September, 2009 um 21:58

@ Thomas von Steinaecker

Da wäre doch wieder die alte Zitatfrage.

Nachdem Herr Krekeler so freundlich war zu erläutern, daß das Bild, das im Bad von Madame Psychosis gewolltem Abgang steht, die „Verzückung der heiligen Theresa“ ist und ich nicht so bewandert bin, habe ich halt gegoogelt.

Jetzt kann ich durchaus sagen, oh mein höheres Wesen, hat die Wurstfinger und häßliche Zehen, oder ich kann das Gesamtbild betrachten und mich verzaubern lassen.

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palamede

22. September, 2009 um 09:27

Lieber Herr JesusJerkoff,

die „Verzückung der Hlg. Theresa“ ist kein „Bild“ sondern eine Skulpturengruppe (Engel + Resi), wie Herr Krekeler richtig schreibt. Es tut mir leid, hier Herrn Krekeler recht geben zu müssen, mit dem man sonst, weiß Gott, nicht immer übereinstimmen muß.

Lassen Sie sich deswegen nicht entmutigen, aber in religiös-kunstgeschichtlichen Fragen wollen wir doch pedantiasch sein, vor allem wenn wir einen so wundervollen Namen tragen.

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Clemens Setz

22. September, 2009 um 18:30

Dieses Bild ist gemeint, oder?

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JesusJerkoff

22. September, 2009 um 22:19

Sehr geehrter palamede,

natürlich ist es eine Skulpturengruppe, aber da ich mich innerhalb dieser Webseite nur innerhalb des Romanes bewege, ist es für mich ein Bild, daß Madame Psychosis und die andere, deren Namen ich nicht mehr weiß (die da bei dem AA-Treffen, die die Krokodile zum Kopfschütteln gebracht hat, weil sie sich monokausal fixiert hat) extrem berührt/verstört hat. Leider habe ich sie (die Statue) nie „leibhaftig“ gesehen, sondern nur auf Bildern, was meine Zweidimensionalität vielleicht etwas entschuldigt.

@ Clemens Setz

Ja, nur leider sieht man bei diesem Bild nur den Kopf, und nicht die Szene.

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Clemens Setz

23. September, 2009 um 11:02

@ JesusJerkoff

Ist schon klar, aber es geht doch im Text vor allem um diesen (Postfummel-)Gesichtsausdruck und der war auf den vollständigen Bildern, die ich im Internet gefunden habe, nicht so gut zu erkennen.

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JesusJerkoff

23. September, 2009 um 21:03

@ Clemens Setz

Es wäre ja schon interessant zu wissen, wieviele Kunststudenten sich über diese Skultpurengruppe die Lippen fusselig geschrieben habe, aber Postfummelausdruck ist wahrscheinlich noch nicht vorgekommen, kommt aber gut hin.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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