10. November

11. November 2009 |

9.30. Am Wasser. Fencheltee. Entspannungsmusik. Das mit dem zu Tode amüsieren von gestern nehm ich zurück. Lag fiebrös auf dem Sofa, als Deutschland den Mauerfall feierte, total zerlegt, Durchlauferhitzer. und mit dem Zweiten wurds nicht besser. Ein musikalisch-intellektuelles Aushängeschild, ein Kessel besonders Buntes, zum Zutodeamüsieren. Der Extremintellektuelle Guido Knopp! Der Extremextremintellektuelle Thomas Gottschalk! Jon Bon Jovi singt, weil er auch an der Mauer herum gepickelt hat! Fünf knödelige Tenöre singen Marius Müller-Westernhagen! Ein Schüler aus Düsseldorf bringt die Mauer zum Einsturz! Jetzt wissen wir endlich, wers war: Alles Westler. Wenn ich Ostler wäre, hätte ich nicht soviel fressen können, wie ich kotzen mochte. Wiedervereinigung auf „Wetten, dass…-Niveau“. Wäre ein gefundenes Fressen gewesen für DFW.
Poor Tony Krause immerhin geht’s wieder besser. Der Genderdysphoriker entlässt sich selbst aus dem Krankenwagen und glaubt sich pumperlgsund. „Bloß gut, dass man nicht sehen kann, wie man aussieht.“ Wohl wahr. Noch wahrer allerdings im Zusammenhang mit Poor Tony. Der sieht sich aber schon einer grandiosen Zukunft entgegentänzeln. Die Szene kennen wir doch. DFW betreibt ein Kabinettstück des Elends. Eine Szene aus etlichen Blickwinkeln. PTK tänzelt nämlich an Matty Pemulis vorbei. PTK war auch bei einer Aktion der „Front-Contre-O.N.A.N.isme“, eine Art Müll-Flash-Mob, an denen auch die Brüder Antitois beteiligt waren.
Wir müssen weiter. Hetzen durch den Hosenlatz von Ennet House. Eine kleine Liste der Namen fürs Gemächt der Häusler. Bam-Bam, Der grässliche Eber, Der polnische Fluch.
Und mit Kate Gompert diversifizieren wir die Depression aus. Von der Anhedonie oder einfacher Melancholie, in die wir mehr oder weniger gegenwärtig alle driften, angefangen. Interessant wird es, als DFW sich aufmacht ins Innere des Hal Incandenza. Und da nichts findet. Nur Leere. Kein intensives Innenlebengefühl, keine Lebensfreude, keine Wertschätzung seit Winzlingstagen. Ähnlich wie Orin. Vollkommen verkannt von Die Moms. Er ist einsam. Aber – so will es die Popkultur – er ist hip und cool, weil Anhedonie im millenialen Amerika hip und cool ist. DFW essayiert über die amerikanische Verfasstheit, über spirituelle Pubertät und was mit Kindern in der Phase geschehen kann. Wir „bekommen gezeigt, wie man Masken der Ernüchterung und der resignierten Ironie formt“. Hal, der leere Held, sagt, „dass das was sich als hippe zynische Transzendenz des Gefühls ausgibt, in Wahrheit Furcht vor dem echten Menschsein ist, denn ein echter Mensch ist wahrscheinlich unvermeidlich sentimental, naiv, schmalzanfällig und ganz allgemein erbärmlich“, „ein irgendwie nicht ganz richtig aussehendes Kleinkind“.
Wir schreiten weiter runter in der Skala der Depression. Die klinische Depression, Involutionsdepression, unipolare Dysphorie. Das kennen wir nun alles schon, vgl. Kate Gompert g.g.g.o. Noch einmal erklärt am Beispiel eines schwerdepressiven Modelleisenbahner. Das ist doch alles eher ein Essay hier.
Hat er wohl gemerkt. Es geht weiter mit dem Blickwinkelspiel. Ruth van Cleeve und Kate Gompert stöckeln die Straße an Matty Pemulis und PTK vorbei, durch die „Kegel epileptischen Lichts flackernder Straßenlaternen“. Die Erzählung zersplintert in Szenen gleichzeitig an unterschiedlichen Orten. Hält an bei Hal, der die taffe Nonne guckt und immer mehr Tenniselevinnen gucken mit. Wär lieber bei PTK geblieben. Das hier geht jetzt in die Beschreibung des Films über. Und den möchte ich schon gar nicht sehen.
Gottschalk allerdings ist schlimmer. Und die knödelnden Tenöre. Und Jon Bon Jovi. Wie soll man dabei gesund werden. Vor lauter Eigenschämen.

2 Kommentare zu 10. November

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Stephan Bender

12. November, 2009 um 20:12

Vielleicht erwartet ja jemand, dass ich etwas Kluges zum Thema ‚Robert Enke‘ schreibe. Dabei kannte ich den Mann gar nicht – und mit ‚Hannover 96‘ verbindet mich nur das Stadion: Dort sah ich zwei der besten Konzerte meines Lebens: Einmal die ‚Rolling Stones‘ und einmal ‚AC/DC‘, übernachtet habe ich wie immer im VW-Bus am Maschsee.

Persönlich bin ich auch heute noch sauer über Menschen, die erst in die Öffentlichkeit drängen und sich dann dergestalt aus dem Leben verabschieden, dass Unbeteiligte in Fassungs- und Ratlosigkeit zurückbleiben. Das ist der Teil der Selbstinszenierung, die dem Opfer von der Gesellschaft aufgezwungen wird und die David Foster Wallace so genial in „Infinite Jest“ beschreibt.

Nicht nur Robert Enke, auch David Foster Wallace blieb interessanterweise auch so lange stabil, bis sein Ruhm ihn fertigmachte. Manche Menschen sind von Hause aus einfach uneitel und können vom Strahl eines auf sie gerichteten Scheinwerfers so grausam vernichtet werden, wie eine Sahnetorte einen Diabetiker töten kann.

Eines der klügsten Bücher zum Thema ist übrigens nicht etwa die 850. Abhandlung über die Struktur des Hirns, sondern dieses hier: Florian Holsboer – Mein Weg zur personalisierten Medizin (C.H. Beck 2009). Seine Thesen sind:

1. Wenn wir krank werden, verlieren wir nicht unsere Individualität. Krankheit generell und in besonderem Maße seelische Erkrankungen sind ein Ausdruck unserer einzigartigen Persönlichkeit.
2. Eine Krankheit wie die Depression kann jeder bekommen. Seelische Erkrankungen sind so alt wie die Menschheit.
3. Eine schwere Depression ist eine organische Erkrankung; betroffen ist in diesem Fall unser Gehirn, unser kostbarstes und kompliziertestes, aber auch das am meisten gefährdete Organ. Bereits geringfügige biochemische Veränderungen im Gehirn können zu seelischen Erkrankungen führen.
4. Die Medizin der Zukunft will nicht nur reparieren, sondern vor allem verhindern, dass wir überhaupt krank werden. Dazu benötigen wir Gentests und sogenannte Biomarker.
5. Die Medizin der Zukunft heilt nicht mehr nach dem Gießkannenprinzip. Sie ist eine personalisierte Medizin, ihre Therapie ist wie ein Maßanzug auf das erkrankte Individuum zugeschnitten.

Sebastian Deisler, den dieser Mann behandelt hat, lebt übrigens und ist guter Dinge.

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non-kausal

12. November, 2009 um 20:58

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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