7. September

7. September 2009 |

Ein von einer berüchtigten Berliner Kette schändlich instandbesetztes Kult-Café am Checkpoint Charlie. 14.30 Uhr. Gigantischer Milchkaffee, unbequeme Hocker. Hinter mir an der Wand singt Elton John. Er hat einen flachgelegten Flokati als Haare auf dem Kopf. Immerhin spielt er tatsächlich Klavier, was er ja – wie man im letzten liveübertragenen Konzert gesehen hat – längst nicht mehr immer tut. Wünsch mir meinen Bach zurück. Der würde zwar nicht mehr zum Wetter passen (indiansummerfarbene Welt), aber besser als dieser Kolossallärm wäre es auf jeden Fall.
Heute hoult erst mal der geschätzt drei Meter große Neger weiter seinen Arno-Schmidt-auf-Drogen-Hiphop. Nichts für gefüllte Mägen, das Zeug. Da spritzt sich einer tot und wird von seinen Kumpels nicht sehr elegant beseitigt. Blumenbach hat wieder Schwerstarbeit geleistet, obs diesmal wirklich überzeugt, weiß ich aber nicht. Es stehen mehrere Rätsel im Raum, mal sehen was mit ihnen passiert.
Hal und Orin telefonieren und lügen sich die Hucke voll. Dass Telefone nur bedingt zur Kommunikation taugen, wird schön vor Augen geführt und vorbereitet, was später kommt, nämlich die Frage, warum so wenig Menschen vom Tele-, auf das Videofon umgestiegen sind in unserer nähereren Zukunft (weil man sich dann nicht mehr verstecken kann beim Kommunizieren).
Wir wechseln wieder einmal den Ort und die Person und den Ton (führt eigentlich irgendeiner Buch, gibt es im Buch sowas wie ein Organigramm, hatte Foster Wallace eins wie Uwe Johnson welche hatte?). Das Ennet House Drug and Alcohol Recovery House. Von einem epiphanisierten Ex-Junkie gegründet, der als „der Mann ohne Vornamen“ firmiert und im (ganz toll) „Jahr des Yushityu 2007 Mimetische-Auflösung-Patronensicht-Hauptplatine- Leicht-Zu-Installieren-Upgrades Für Infernatron/InterLace TP-Systeme Für Heim, Büro oder Unterwegs“ (Uff!!!) starb.
Jetzt muss in DFWs Festplatte wieder irgendein Kurzer zugeschlagen haben. Und wir finden eine besonders lustigen Fall von dusseligem Unfall am Bau, Hal Incandenzas Schulessay, in dem er „Hawaii fünf null“ und „Polizeirevier Hill Street“ vergleicht – und prophezeit den katatonen Detektive der Zukunft (was mich an Walter Moers „saloppe Katatonie“ erinnnert, in die ich allmählich falle), eine alphabetische Liste separatistsicher/anti-o.n.a.n.istischer Gruppen und eben einen Rückblick auf die Entwicklung der Videofonie. Ich verleihe dem Buch hiermit den Ben-Schott-Preis für herausragende Sammelsurienliteratur.

1 Kommentar zu 7. September

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Clemens Setz

7. September, 2009 um 17:53

Mich hat der kleine brillante Essay über die Frage, warum Videotelefonie nicht funktioniert, in seiner wunderschönen kreisförmigen Logik an die berühmte Stelle aus Kafkas Briefen erinnert, wo er über die Mäuse schreibt, die, als er in Zürau bei seiner Schwester zu Besuch ist, zu ihm nachts ins Zimmer kommen und ihn durch ihr Getrippel wachhalten. Er legt sich daraufhin eine Katze zu, aber die stört ihn ebenfalls durch ihre Geräusche in der Nacht, also muss er sie in einem separaten Zimmer einsperren. Dann besorgt er sich Mausefallen, stellt sie überall im Zimmer auf, aber dann hört er, wie er sagt, die Stille der gespannten Mausefalle, diese ständig kurz vor dem Zuschnappen stehenden Todesmaschinen – und muss sie wieder entfernen. Und damit ist er wieder am Anfang, bei den Mäusen. Er hat sich selbst schachmatt gesetzt und es scheint so, als wäre eine Lösung von Anfang an außer Diskussion gewesen.
Das ist überhaupt ein durch das ganze Buch gehender Refrain: wie man sich durch bloßes konsequentes Nachdenken in einer schwindelerregenden Endlosschleife verfangen kann. Vielleicht war das ja ein wenig auch das Kompositionsprinzip (obwohl es für ein echtes „Organigramm“ wohl nicht ganz reicht) – zusammen mit den fraktalen Iterationsschritten, die aus anfänglich diskreten Punkten (d.h. den vielen Anekdoten) nach und nach ein Bild machen.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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