Vierter Bericht von irgendwo auf dem Fünfhunderter-Streckenabschnitt. Zwei Anmerkungen noch zur Etappe davor:
1. Die Schilderung der Geburt und Kindheit von Hals schwerstbehindertem Bruder Mario scheint mir Topoi einer Messias-Legende zu enthalten (die „unbemerkte Schwangerschaft“, die heimliche Bewunderung Hals für Marios menschliche Überlegenheit, den er „insgeheim vergöttert“, die Vermutung , die Mutter „Avril könne Mario für das eigentliche Wunderkind halten“ (auch wenn (oder gerade weil!) der Erzähler abschwächt mit dem in Klammern stehenden Hinweis, Hal bekunde „damit verblüffend wenig Einsicht in die Psyche der Moms“). Messias- oder Jesus-Topoi gibt es in der jüngeren Literaturgeschichte etwa bei Camus in „Der erste Mensch“, auch die Figur des behinderten, zurückgebliebenen, beschädigten als des besseren (menschlicheren) Menschen kommt recht häufig vor, aber ich glaube nirgends in dieser überzeichneten, halb ironischen, halb pathetischen Form (Ironie, die sich überschlägt, bis sie das Klischee zerreißt?). Wie viel Romantik (siehe unten in: „There’s no off-switch…“), wie viel „Endspiel“ und Poststrukturalismus wüten da noch? (Oder wüten sie nur scheinbar?) (Und was soll ich davon halten?: Die Frage bleibt bis auf weiteres offen … )
2. Zum ersten Mal bin ich bei der Lektüre in echte Begeisterung geraten. Und zwar auf den Seiten 458 bis 463. Marathe spricht über den Unterschied zwischen der amerikanischen Unterhaltungs-O.N.A.N.-Freiheit („Eure Freiheit ist die Freiheit VON“) und einer „Freiheit FÜR“, die ins Utopische verrückt ist. Das hat mich beschäftigt. Nicht nur, weil ich exakt dieselbe Unterscheidung vor zehn Jahren in einer schriftlichen Diskussion mit Georg M. Oswald (in „Akzente“ 2/1999) über die zunehmende Marktförmigkeit des Kulturbetriebs getroffen habe (Stichwort: Koinzidenzen). Sondern weil der Gedanke bei DFW ins Metaphysische weitergeführt wird: Die Lust/der Appetit als Glaubensinhalt, als einziger Sinn-Horizont, für den man zu sterben bereit ist. „Irgendwer hat eure Völker vergessen lassen, dass das das einzige wichtige Ding ist, Wählen.“ Nämlich die Freiheit zur Wahl eines anderen „Tempels“ als dem des Appetits, des unendlichen Spaßes. Der Terror der tödlichen Unterhaltungspatrone, „so schön, dass sie jeden Betrachter umbringt“, ist nach dieser Zustandsbeschreibung einer von Unterhaltung dominierten Gesellschaft nur eine Vorwegnahme. „Der genaue Zeitpunkt vom Tod und die Methode vom Tod, das spielt keine Rolle mehr. Nicht für eure Völker. Du willst sie beschützen? Aber du kannst es nur aufschieben. Nicht retten. Die Unterhaltung existiert.“ (Und auch die Frage nach der Wahl eines anderen „Tempels“, nach der Freiheit FÜR WAS bleibt bis auf weiteres offen, nicht nur im Buch …..)

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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