familiäre Fraktale

21. Oktober 2009 |

Wir treten ein in eine Welt, die uns erst fremd (gemacht) werden muss, bevor sie uns vertraut wird. Ein Glas schien ihm dieses Buch zu sein, so Michael Pietsch, Wallaces Lektor, nach Lektüre der ersten 400 Seiten, das jemand aus großer Höhe herunterfallen lässt. Nicht die Splitter allein sind interessant, ihre zufällige Anordnung nach dem Zerspringen, das Muster, das sie ergeben. Auch die relativ senkrechte Bahn, die das Glas im Flug beschreibt, seine Geschwindigkeit, das, was sich in ihm spiegelt während des kurzen Moments, in dem es fällt, die Reflexionen des Lichts, das möglicherweise von irgendwoher auf die Szene strahlt. Das auf Dauer gestellt: das Synapsenfeuer, das den Unendlichen Spaß entfacht. Nur: es handelt sich nicht um Zufälle. Das Muster, wie es da vor uns liegt, das hat Wallace zumindest wiederholt betont, ist so beabsichtigt. Was, aus literaturkritischer Perspektive, noch nichts darüber aussagt, ob es auch gelungen ist. Nur ist es schwierig, unendlich schwierig, sich das vorzustellen, wenn man 200 oder 400 Seiten gelesen hat. Auch nach 600 oder 800 sieht es noch nicht viel anders aus. Möglicherweise. Vielen geht das so.
Doch ich glaube nicht, dass Unendlicher Spaß ein schwieriges Buch ist. Nicht einmal in dem Sinne, wie Jonathan Franzen vor ein paar Jahren William Gaddis als „Mr. Difficult“ zu charakterisieren versucht hat. Das war, in einem literarischen Kontext, ebenso eine Familien- und Abstoßungsgeschichte, wie Unendlicher Spaß das literarisch und biographisch liefert.
Gefasst in Schönheit und Komplexität, in ihre wechselseitige Bedingtheit, legt Wallace eine vielfach gesplitterte Geschichte vor, die von Familienhölle erzählt, von Einsamkeit und Trauer, von Liebe, die nur unter der Bedingung maximaler Verunstaltung und Versehrung möglich ist (Joelle, Gately), vom verzweifelten Wörterfetischismus eines monströsen Kindes (ich meine nicht Mario), dass nicht nur durch mütterlichen Terror moralischer Wohlgestalt verstummt, sondern mit seinem tief verstörten Komplex aus Begehren und Schuld (der unerreichbare, zerlegte Vater, die promiske Mutter, die es mit John Wayne treibt und – wie es spät einmal relativ versteckt angedeutet wird – auch von Orin erkannt wurde) in einen Weltinnenraum von vollkommener Leere treibt. Hier kann man nun mit Wallace die sorgfältig arrangierten Spiegelsplitter hinzu montieren, die Laertes Gately und Joelle Ophelia bieten oder die Geschichte von Marathes Frau. Oder die zahlreichen anderen Mütter im Buch, wie die von Randy Lenz und Bruce Green. Verstörend an Unendlicher Spaß sind nicht Umfang, Syntax, Struktur oder Vokabular, sondern ihre Destillation in einer fiesen und finsteren, in vielfältig aufgefächerten Echos daherkommenden Familiengeschichte.

2 Kommentare zu familiäre Fraktale

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Clemens Setz

22. Oktober, 2009 um 11:24

aus: „Angewandte Beispiele zur Rationalisierung nicht-euklidischer und nicht-linearer DFW-Räume.“, S. 10212f.

Korollar #1:
Familie ist ein Fraktal.

Beweis: (folgt im Grunde aus Theorem Nr. 5b, „Hal Incandenza ist eine seltsame Schleife ohne Attraktor“.) Jedes Mitglied einer Familie hat immer das Bild der ganzen Familie in sich und kopiert es im Lebenslauf.

Korollar #2:
Wenn jedes Mitglied einer Familie das Gesamtbild der Familie in sich abgespeichert hat, entsteht zwangsläufig wieder Chaos, wenn es sich gegen das Familien-Selbstähnlichkeits-Gebot auflehnt.

Beweis: Folgt direkt aus Kor. #1. Zur Veranschaulichung: Wenn man die klassische Familienaufstellung, Mutter, Vater, Kind vor sich hat, hat man eigentlich nicht drei Personen, sondern drei Drei-Einigkeiten. Nicht im theologischen, sondern im soziologischen Sinn. Wenn sich eine Drei-Einigkeit von ihrem Ur-Bild entfernt, entfernen sich auch 2/3 von ihr selbst in ihrem Inneren – also: Chaos, Drogen, Selbstmord-Familienfluch etc.

Übungsbeispiel # 1:
Gilt auch die Verallgemeinerung des Kor. #1 „Gesellschaft ist ein Fraktal“? Wenn ja, in allen Räumen oder nur in nicht-linearen DFW-Räumen?
Begründe deine Antwort in ganzen (Ergänzung mit blauer Füllfeder: grammatisch korrekten) Sätzen!
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Stephan Bender

22. Oktober, 2009 um 14:48

Fehlerbereingt !!!!

@ Clemens Setz:

Antwort:

Für jedes menschliche Problem gibt es eine einfache Lösung: Einleuchtend, klar und falsch!

Begründung:

Persönlichkeiten, die das “Familienbild in sich abgespeichert” haben, fraktalartig auf die Gesellschaft (als eine Menge von Persönlichkeiten oder Familien) hochzurechnen, ist zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für das Verständnis der Individualität des Einzelnen.

Insbesondere gibt es kein “Urbild” im soziologischen Sinne, da die Soziologie die Beziehungen zwischen den Menschen unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Veränderungen untersucht. So kann zum Beispiel kein “Urbild” zwischen einem mittelalterlichen Burgherren und einem neuartigen Software-Programmierer hergestellt werden, obwohl u.U. beide aus einer direkten Abstammungslinie stammen. und die gleichen Hobbys haben.

Ja, die Gesellschaft ist ganz ohne Zweifel ein “Fraktal”, doch hier ist die Logik entgegengesetzt: Menschen haben ihre Beziehungen, weil sie darauf angewiesen sind und ohne ihre menschlichen Beziehungen nicht überleben könnten. das gilt ganz besonders in einer arbeitsteiligen Gesellschaft wie der heutigen. Es handelt sich also beim “Fraktal” um eine notwendige, nicht um eine hinreichende Bedingung für das Leben eines jeden Menschen. (1)

Die nichtlinearen Räume eines DFW sind nicht einfach zu erklären, doch aufgrund der expliziten Aufgabenstellung soll der Versuch hier unternommen werden. Ein normaler Durchschnittsmensch wie Kalle, Clemens oder ich versuchen sich ihre Welt im dreidimensionalen Raum zu erklären, was schon anstrengend genug ist. Dazu kommen noch die Zeit, Hunger, Durst und die einen ewig quälende Libido, die offenbar einen eigenen Raum im Leben eines normalen Durschnittsmenschen beansprucht.
DFW dagegen ist ein Genie: Er stellt sich kurzerhand n-dimensionale Räume vor (- mit n gegen unendlich -), und reduziert sie dann kurzerhand … sagen wir mal … auf 9. Danach zieht er eine sinusodiale, gekrümmte Ebene durch den 9-dimensionalen Raum und schreibt “Infinite Jest”.

Beurteilung

Inhalt:
Ausdruck:
Grammatik:
Rechtschreibung:
Schrift:

Gesamtnote:

Fußnote a la Wallace:
(1) Gruß an Kalle, Du bist auch gemeint. Wenn Du emytologisch voll drauf bist, meld’ Dich doch mal wieder…! Und bring das Wörterbuch mit!

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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