Alptraum:

Ich bin ein großer, austrainierter schwarzer Turm.
In mich schlagen von allen Seiten her die Tennisbälle ein. Bis ich endlich zerbreche und niederregne.
In abertausend schwarzen Witwen.

Die Tirade des Zuchtgründers Opa Incandenza (S. 224-244) hatte mich bis in den Schlaf begleitet.
Bei diesem sind ja die Romangene schon vorhanden: Tennis, Spinnen, Filme, Körper, Psychosen.
Gerade das Pflichtdenken, den Körper bis zur Transzendierung zu üben, und das gegen jeden individuellen Wunsch und gegen jedes Experiment; alles auf das eine Ziel, das kein Ziel an sich ist, zu eichen, das, dieses Verlangen nach Unterwerfung und Auslöschung, hat in mir (ich gestehe: erstmalig!) ein Interesse an der Stoa¹ geweckt.

Wie viele bieten infolge des unaufhörlichen Sinnengenusses [oder: unendlichen Spaßes] den Anblick von wandelnden Leichen!

Worum geht es:

Sein Leben lang muss man das Sterben lernen. Es gehört […] ein großer und über menschliches Irrsal erhobener Mann dazu, nichts von seiner Zeit umkommen zu lassen; und sein Leben ist aus dem Grund das längste, weil es in seiner ganzen Ausdehnung gerade ihm selbst zur Verfügung steht.

und:

Das Leben, das uns gegeben ist, ist lang und völlig ausreichend zur Vollführung auch der herrlichsten Taten, wenn es nur von Anfang bis zum Ende gut verwendet würde;

Bis hierher verständlich. Natürlich stellt sich die Frage, ob eine lebenslange, deformierende Übung wie der Sport, oder auch der Hirnsport des Romanciers, eine gute Verwendung des Lebens darstellt.
Aber bei Seneca, dem römischen Dale Carnegie, und hier unterscheiden sich beide Entwürfe, geht es vor allem um das Selbstgewählte (im Weiteren: die selbstgewählte Muße). Die Looser sind diejenigen, die um Dritter willen ihre Dienste verrichten; sei das nun ein Sklave, ein Beamter oder ein Sportler.

Die Natur der Geschäftsmänner, die S. als Beispiel anfügt, kann man getrost mit der Mentalität unsrer Zeit vergleichen, wo ein homo oeconomicus dem nächsten gerne Bruder und Geschäftspartner (natürlich in umgekehrter Reihenfolge) ist.

[…] die Seelen der Geschäftsmänner sind gleichsam durch ein Joch gehemmt, sie können sich nicht wenden und rückwärts schauen. So sinkt das Leben in den Abgrund, und du magst zuschütten, so viel du willst: es hilft nichts, wenn kein Untergrund da ist, der es auffängt und festhält. So mögen dir die Lebensjahre auch noch so reichlich gewährt werden: wenn sie keinen festen Widerhalt haben, so finden sie durch die gelockerten und durchlöcherten Seelen ihren Ausweg. Die Gegenwart ist nur ganz kurz so kurz, dass sie manchen wie ein Nichts erscheint. nur die Gegenwart gehört den Geschäftsmännern, sie die so kurz ist; diese aber entzieht sich ihnen infolge der zerstreuenden Vielheit ihrer Tätigkeit.

Die Idee, dass wir uns zu Tode amüsierten; dass wir uns mit Drogen, mit dem Sport, mit Incandenzas Film anfüllten, bis das wenige Selbst ganz untergegangen wäre, beruht so allein auf der Möglichkeit, nicht mehr über seine Zeit verfügen zu können oder zu wollen.

Ich wundere mich oft, wenn ich sehe, dass man andere bittet, uns ihre Zeit zu widmen, und dass die darum Ersuchten sich so überaus gefällig erweisen. […] man bittet um die Zeit, als wäre sie nichts, man gewährt die Zeit, als wäre sie nichts.

Die Pflichtethik, die den Roman durchzieht, würde wohl verstanden werden, nicht aber die allerorten in ihm wuchernde Fremdbestimmung. Etwas anderes als das pathologische „Müssen“ habe ich noch nicht wirklich ausmachen können. Stand: S. 261.

¹ Textstellen aus „Von der Kürze des Lebens“, Senecas 10. Dialog. Modifiziert in der Übersetzung von Otto Apelt.

3 Kommentare zu Gestern und der Tag danach

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Lou

13. September, 2009 um 17:54

@ Robert Michael Wenrich

Vorschlag – verdichten wir ein wenig das Netz und erweitern wir die »Pathologie des Müssens« im homo oeconomicus um die subtile Ambivalenz von „Dichtung und Wahrheit“ in US; unterlegen wir Seneca die elliptische Wiederkehr von Hamlets (Dichter-)Narren und die Frage nach dem Schattenspiel des Lebens, die das Buch bis hierhin durchzieht.

Hamlet fragt (sich – und den Narren…):
“Where be your gibes now? your
gambols? your songs? your flashes of merriment,
that were wont to set the table on a roar? Not one
now, to mock your own grinning? quite chap-fallen?”

Zwischen Jim und seinem Vater geht es um das »Leben als Spieler« und die Leere (dieses Spiels?!) wird „reines Potenzial“. Die Pathologie des Müssens ist dabei treibend, ohne Zweifel und doch unterliegt sie, denke ich, einer mehrdimensionalen Polarität aus Verzweiflung und Affirmation, aus Wegrennen und Dagegen-Anrennen; eine dichterische, literarische Polarität, die Nietzsches Zarathustra mit dem »alten Zauberer« in der (Dichter-)Existenz des Narrens austrägt:

„Der Wahrheit Freier? Du? […].
Nein! Nur ein Dichter!
Ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes,
Das lügen muss,
Das wissentlich, willentlich lügen muss:
Nach Beute lüstern,
Bunt verlarvt,
Sich selbst zur Larve,
Sich selbst zur Beute –
Das – der Wahrheit Freier?…
Nein! Nur Narr! Nur Dichter!
Nur Buntes redend,
Aus Narren-Larven bunt herausschreiend,
Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken,
[…] –
Nur Narr! Nur Dichter!

[…]

Von Einer Wahrheit
Verbrannt und durstig:
– gedenkst du noch, gedenkst du, heisses Herz,
Wie da du durstetes? –
Dass ich verbannt sei
Von aller Wahrheit,
Nur Narr!
Nur Dichter!

„ – aber wer hiess dich auch Menschen zu verschlucken wie Austern, mein Prinz Hamlet?“
(Fröhliche Wissenschaft, 167).

Diese Narren-Larven, die Ambivalenz der Masken im Spiel des Lebens, »verliest« Madame Psychosis als „L.A.R.V.E.-Material“:

„Leute mit Sattelnasen. Leute mit atrophischen Gliedern. Und, genau, Chemiker und Reine Mathematiker im Hauptfach auch mit Halsathrophien. Leute mit Scleroedema adultorum. Leute mit Serodermatose, die nässen. Nicht einer nur, kommt alle, heißt es hier im Rundschreiben. Die Hydrozephalen. Die Schwindsüchtigen, die Kachektiker und Anorektiker. […]. Her mit Euch. […]. Ihr mit Pityriasis rosea. Hier steht »Kommt her zu mir, die ihr abstoßend und verwahrlost seid. Selig sind, die da körperlich arm sind, denn ihrer«.”

Die »Gott-ist-tot-Debatte« wird zum Potenzial der Leere in der Feststellung – “Dass der/die/das Gott der AA und der NA und CA augenscheinlich nicht verlangt, dass Sie an Ihn/Sie/Es glauben, damit Er/Sie/Es Ihnen hilft” – und – “Dass Gott – außer Sie sind Charlton Heston oder verrückt oder beides – ausschließlich durch menschliche Wesen spricht und handelt, falls es einen Gott gibt” – und – “Dass für Gott die Frage, ob Sie daran glauben, dass es Ihn/Sie/Es gibt oder nicht, auf der Liste der Dinge, die Ihn/Sie/Es an Ihnen interessieren, ziemlich weit unten steht.“

Und Avril stellt fest: „Ich möchte auf gar keinen Fall, dass du Spaß hast.“

Die Zeit, die „man gewährt“ überwindet sich damit selbst in den Raum, den literarischen, den Lebens-Raum der polaren Ambivalenz eines Spannungsbogens, der aus der Multiperspektivität von US (oder DFW…?) gespeist wird und bei dem die Frage des homo oeconomicus eine ist, aber, so denke ich, eben nur eine.
Die „Schatten“ dieses Spannungsbogens sind ein latentes Motiv in US:
„Mein Schatten ruft mich? Was liegt an meinem Schatten! Mag er mir nachlaufen! – ich laufe ihm davon .“ (Zarathustra IV) – Wegrennen und Dagegen-Anrennen. Die Ambiguität der Sphäre zwischen Leben und (seiner) Zeit und Leben und seinem Möglichkeits-Raum ist ein Thema in US und die Frage danach, ob und wie dieser Spannungsbogen ausgehalten werden kann.

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Robert Michael Wenrich

14. September, 2009 um 00:17

Liebe Lou,

bitte nicht verärgert sein, wenn ich nachhake, aber mir sind Teile des Kommentars auch nach mehrmaligem Lesen schlicht unklar geblieben. Bspw. die Kette: 1) die subtile Ambivalenz von „Dichtung und Wahrheit“, 2) [die] mehrdimensionale Polarität aus Verzweiflung und Affirmation [gegenüber dem „Müssen“] und 3) [der] Lebens-Raum der polaren Ambivalenz eines Spannungsbogens [etc.]? Das verstehe ich leider nicht.

Vielleicht habe ichs undeutlich formuliert. Eigentlich wollte ich auf etwas hinaus, was Wallace auch in seiner Kenyon Speech ausdrückt, nämlich: die Chance auf Rückeroberung einer gewissen Freiheit durch die bewusste Wahl eines Mind Sets.
Er beschreibt dort den Alltag ja als – und böserweise könnte man sagen: natürlich, er ist ja auch Amerikaner! – feindliche Umgebung, gegen die man sich jedoch wehren kann. Nicht indem man sie direkt bekämpfen würde, sondern indem man sich auf sie einstellt (Beispiel: Feierabendeinkaufsstress). Schwülstig könnte man sagen: Erziehung zur Kritik des Alltags.

Ich denke doch, das ist eine ganz klassische Aufforderung zur Mündigkeit. Und diese wollte ich mit der Losung des Seneca, über seine Zeit selbst zu verfügen, und sie nicht mit Saufen (als eine Aufgabe der Zeit) oder der Ausübung des Beamtenberufes (als eine nutzlose Vergabe der Zeit) oder beidem zugleich zu verplempern, vergleichen. Im Spaß, korrigieren sie mich bitte, finde ich bisher (Stand: S. 273) nur Figuren vor, die das gerade nicht beherzen, also in Senecas und im Sinne Wallace eher unmündig und eher driven sind. Ein Grund für die große Komik des Buches.

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Lou

14. September, 2009 um 21:19

Lieber Robert Michael Wenrich,

ich komme erst jetzt zum Schreiben, wollte aber, auch wenn wir im „Gespräch“ vielleicht schon wieder ein Stück weit woanders sind, Ihnen auf jeden Fall antworten; vielen Dank zunächst für Ihre Anmerkungen. Vielleicht war mein Einwurf auch sehr spontan gesetzt und deshalb zu sehr von innen heraus, um nachvollzogen zu werden.

Den Rekurs auf die „Kenyon Speech“ gehe ich mit, vollständig. Und das ist genau der Punkt. Wenn ich die Kenyon-Ausführungen und US nebeneinanderlege, dann denke ich, dass in der Rede mehr steckt, als „nur“ die Aufforderung zur konstruktiven Mündigkeit gegenüber dem »default-setting«; es geht hier auch um eine Wahl. Und um Entscheidungen, die zwischen Eigenverantwortung und Fremdsteuerung oszillieren und die der „Selbst-Ver-Ortung“ bedürfen. Eine Selbstverortung, die im Kopf stattfindet, in der Interferenz des „day in and day out.“

Diesen Oszillationsfaktor der Entscheidungsebenen habe ich beim Lesen von US und beim Betrachten der Handelnden im »Kopf« (um im Bild der „Speech“ zu bleiben). Wir hatten die (Post-)Moderne-Diskussion in einem anderen Zusammenhang, aber auch da spielen wir mit dieser Thematik hinein.

Sicherlich, ich stimme zu, es sind zunächst die Einzelnen, die scheinbar zentriert auf das »default-setting« sind oder sich in der destruktiven Negation desselben einrichten. Und doch sind da auch diese, ich nenne sie, in Ermangelung eines besseren Wortes, Verbindungslinien (deshalb mein Begriff des Netzes) in Szenen wie Hals „Ich bin hier drin“ direkt zu Beginn des Buches, Erdedys Kiffer-Phänomenologie, Kate Gomperts Verzweiflung, Schtitts Gespräch mit Mario, Jims Vater und Madame Psychosis´ Mitternachtsschau, ja, und in der Figur Don Gatelys. An diesen Stellen »hält« für mich das Buch, weil es genau hier über die reine Negation von Alkohol, Drogen, Rollstuhl-Terrorismus und gesponserten Jahreseinheiten hinausgeht. Deshalb habe ich den Hinweis von Guido Graf aufgenommen und Hamlets »Yorick-Sequenz« noch ein Stück weitergelesen. Denn – ich bin vollständig Ihrer Meinung: das ist ein Grund für die grandiose Komik des Buches. Aber auch Hamlet oszilliert zwischen den Reflexionsebenen; das macht die Figur für uns spannend.

Ob das „Netz“ für mich hält – ich weiß es nicht; ich lese das Original „nur“ parallel, will sagen, ich habe noch keine weitere Textkenntnis als meinen derzeitigen Stand von Seite 326 in der deutschen Ausgabe.
Vielen Dank noch einmal für Ihre Einlassung.

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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