Kates Geschichte ist die erste, an der ich länger hängen geblieben bin. Seite 99ff.: Katharina A. Gompert, genannt Kate, ist 21 Jahre alt, stammt aus Newton, Massachusetts und arbeitet als „Datenbankangestellte“ in einer Immobilienfirma. Sie leidet an unipolaren Depressionen und hat bereits zwei Selbstmordversuche hinter sich. Diesmal hat sie es mit einer Überdosis Tabletten probiert.

Kate hat zwei Tage auf der Intensivstation verbracht und ist anschließend in die Psychiatrie verlegt worden. Ein junger Arzt besucht die Patientin in ihrem Zimmer und wird angenehm überrascht. Alles ist wie in einem Lehrbuch. Bereits die Haltung, in der Kate auf ihrem Bett liegt, „die Knie an den Leib gezogen und die Hände um die Knie gefaltet“, gleicht einer Illustration auf dem Titelblatt eines psychiatrischen Standardwerkes. Der Arzt macht sich Notizen zu ihrer fehlenden Mimik, er stellt befriedigt fest, dass die Zähne der Patientin „die von klinisch Depressiven traditionell vernachlässigte Dentalhygiene bekunden“ und dass er ihr vom professionellen Standpunkt aus nur zustimmen kann, als sie über ihre Gefühle während ihrer letzten Krise spricht: „Angst macht einen Großteil der Panikattacken aus.“

Kate ist also eine Musterpatientin, und vielleicht kann man diesen Abschnitt als raffinierte, selbstbezügliche Parodie auf das Verhältnis der Kritik zur Literatur lesen. Ein Literaturkritiker ist ja genau wie der junge Arzt in diesem Kapitel stets entzückt darüber, wenn das Buch, mit dem er sich gerade beschäftigt, seine Erwartungshaltungen erfüllt. „Unendlicher Spaß“ ist in diesem Sinne ein äußerst angenehmer Fall, da dieses Buch mit seiner fragmentierten Handlung, seiner Vielzahl von Stimmen und seinem pseudowissenschaftlichen Apparat auf den ersten Blick vieles von dem zu bestätigen scheint, was ein postmodernes Werk ausmacht.

Gleichzeitig ist dieser Roman einem Berufsleser beziehungsweise einem „literarischen Gutachter“ weit voraus. Gut möglich, dass dieser Text jede noch so gewagte literaturkritische Diagnose bestätigen wird, ohne dabei wirklich etwas von sich preiszugeben – genau wie Kate, die die Standardprozedur eines Erstgespräches auf der psychiatrischen Station gut genug kennt, um bei Bedarf die passenden Symptome zu jedem Krankheitsbild zu liefern: „Ich mach das ja schließlich nicht zum ersten Mal.“

Zuletzt bekommt sie im Übrigen, was sie will, nämlich eine Elektrokrampftherapie: „Ich möchte Schocks.“ Die Frage (die Georg Klein schon vor einigen Tagen angedeutet hat) ist die: Was wird dieses Buch irgendwann von uns verlangen?

3 Kommentare zu Liebe mein Symptom, nicht mich selbst

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Gisela Trahms

29. August, 2009 um 11:17

Was könnte das heißen, „preisgeben“? Hal sagt am Anfang: „Ich bin hier drin“. Also: im Roman, aber auch „in sich“. Kate sagt (S. 106): „Es ist, als könnte ich nicht weit genug raus, um ein Wort dafür zu finden“ (für ihren Zustand). Die Worte findet der Erzähler, der drin ist und draußen. Aber nicht im Sinne von: Ich gebe preis, wie es so ist, „da drin“. Sondern im Sinne von Wortwäldern, dicht und dämmrig. Und die Lichtungen, wo es plötzlich hell wird, sind (bislang, für mich) die kurzen Sätze, so wie die von Hal, Kate oder Orin: „My head is filled with things to say“. Oder: „Für Orin Incandenza.. ist der Morgen die Nacht der Seele“ (S.63). Der Erzähler gibt dem Leser das Wander – Gefühl, er ist die Landschaft, der Stock, das Fernglas und die Lupe, und das ist das Lustvolle. Er gibt sich preis und entzieht sich, immer schön parallel, und so wandern wir weiter.

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Stephan Bender

29. August, 2009 um 15:39

Die Frage ist falsch gestellt: Das Buch wird gar nichts von uns verlangen, denn Bücher verlangen per se nichts.

Was DFW sagen wollte, ist auf einie griffige Fornel gebracht das Folgende: Normalerweise haben Menschen Symptome und verlangen von der Gesellschaft eine Art Reparatur der eigenen Seele. Wenn aber die Gesellschaft selbst das Symptom ist, legt sich der Mensch neurotische Verhaltensweisen zu, die ihn zu dieser Gesellschaft kompatibel erscheinen lassen. Nun birgt dieses konsumistische Zulegen von fremden Verhaltensweisen aber einen neuerlichen Konflikt, nämlich jenes „Fremdgefühl“, von dem das Mädchen spricht, welches sich seiner Situation ja absolut klar ist. In der Quintessenz verlangt sie also vom Arzt, er möge sie „löschen“ (wie eine Datei), damit das Fremdgefühl aufhört. Sie ist nun bereit, sich lieber als nicht funktionaler Fremdkörper in einer Gesellschaft zu bewegen, Drogen zu nehmen und nicht zu funktioneiren, als weiter jenes Gefühl ertragen zu müssen, das sie regelmäßig in den Suizid treibt.

Etwas Ahnliches habe ich mal geschrieben, als ich mich in einem Roman mit der neurotischen Endzeit der darniederdarbenden DDR beschäftigt habe. Damals ging es mir um die „Fassungslosigkeit, das erwachsene und intelligente Menschen Begründungen dafür ablieferten, warum sie in einem Staat vegetierten, in dem offenbar niemand leben wollte.“ Die Parallelen des Selbsthasses, mit dem man eine unfreie Diktatur oder eine lebensfeindliche Leistungsgesellschaft verteidigt, sind unübersehbar. Die Gesellschaft ist das Symptom und alle sind sich dessen auch bewusst, aber das Individuum kann als Mitglied der Gesellschaft die Krankheit nicht leugnen, an der alle leiden. Am Ende bin ich ausgereist, offen gehasst von allen Zurückgebliebenen, deren Krankheit ich nicht teilen und auch nicht haben wollte. Das Mädchen oder Hal können nicht ausreisen, sie können nur mitspielen und sich aus Protest ein paar Symptome zulegen: Essays oder Elektroschocks.

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T-Man

29. August, 2009 um 19:18

Kate Gompert scheint mir bis jetzt der „normalste“ Charakter zu sein. Jedenfalls aber hat sie ein wunderbares Bild für eine klinische Depression geliefert. Nicht die üblichen dunklen Metaphern, nein: Zellen und Atome, die kotzen wollen und nicht können, und das für den Rest des Lebens des Wirtskörpers. Wenn das nicht blanker Horror ist…

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Über das Buch

1996 erschien »Infinite Jest« in den USA und machte David Foster Wallace über Nacht zum Superstar der Literaturszene. Vor einem Jahr nahm sich David Foster Wallace das Leben. Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces Opus magnum gearbeitet, dem größten Übersetzungsprojekt in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
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