Und d o c h…

9. September 2009 |

….es bleibt ein ständiges Gefühl des Ungenügens, trotz >>>> solcher plötzlichen („unmittelbaren“) Berührungen. Ich frage mich ständig bei diesem Buch: Läse ich’s weiter, wenn ich nicht „versprochen“ hätte, hier mitzutun? Dann liegt der Schinken da, mehr Aufgabe als Lockung, ein Pensum, das zu bewältigen ist, und man weiß als Lustmensch nicht recht, warum. Man liest’s, weil man’s versprochen hat und zuverlässig ist.
Ganz anders ging es mir mit jedem Pynchon (ausgenommen Mason & Dickson, auch da kam ich nie richtig rein); von „V.“ an – ich las Pynchon, mit Ausnahme der Erzählungen, chronologisch – war ich immer aber auch sofort im Sog, nie gab es da einen Moment des Retardierens, nie eine Redundanz wie hier, nie solch eine Gesurfe über konversierende Oberflächen… es mag sein, daß ich das völlig falsch sehe, selbstverständlich, mir mag schlicht die kulturelle Codierung fehlen, die solch ein Buch braucht (mir geht es völlig anders als etwa >>>> René Hamann), aber etwa bei Wallaces Tennisszenen (mich hat Sport als Kulturwissen nie interessiert, ich kann Fußball nicht leiden, ich guck mir keine Olympia-Übertragungen an und geh schon gar nicht zu öffentlichen Spielen) geht es mir anders, völlig anders, als bei DeLillos Baseball-Match in Underworld; dabei ist mir Baseball n o c h fremder als Tennis… aber die Szene, die der Dichter beschreibt, kam mir ausgesprochen nahe, vielleicht weil er sie unironisch erzählt: hier ist Liebe. Während ich bei Wallace den Eindruck habe, das Spiel selber interessiert ihn gar nicht, es ist nur ein Modell, ja selbst die Spieler sind dem Spiel entfremdet, während bei DeLillo Spieler und Zuschauer das Spiel s i n d: „Herz, mein Herz“ liest man da plötzlich (S.57) – und wenig später: „Der Augenblick hat etwas Übernatürliches, das läßt ihn erschauern und erregt ihn und“ j e t z t kommt die Kraft: „treibt seine Hand in die Tasche, um die dort versteckten, düsteren Seiten zu berühren.“
Von all solchem nichts bei Wallace, jedenfalls bisher. Der Sport ist eine Abrichtungsmechanerie, in der Seele nicht vorkommt; deshalb gibt es auch keine „düsteren Seiten“ und deshalb keine hellen; alles ist, letztlich, ernüchterte Funktionalität; das erzeugt einer bei allen „Ausschweifungen“ vorherrschende Glätte eines AllesIstSchlimm. Halte ich William Faulkner dagegen, meine Droge dieses Julis und Augusts, wird das besonders klar: da gibt es Menschenliebe, ständig, gegenüber nahezu jeder Person, von der erzählt wird, die erzählt wird, Menschenliebe ist geradezu der Motor faulknerscher Erzählbewegungen; auch Faulkner war „depressiv“, dennoch ist die poetische Haltung anders. Nun läßt sich Wallaces Ansatz sicherlich mit „postmoderner Disposition“ erklären, aber so what? Man kann das bei Pynchon und für Ishiguros mir bis heute in seiner Leuchtkraft unfaßbarem „The Unconsoled“ genauso… ; wenn aber bei Pynchon in den Tankstutzen eines Autos gepißt und dabei Mahlers Lieder eines Fahrenden Gesellen gesummt wird, hat das zwar einen kalauernden Witz, kennt man aber die Lieder, dann sind eben diese Lieder gleichzeitig d a – und das ganze Ausmaß der Ambivalenzen wird klar: Tiefe. Ich erwarte so etwas von einem Buch. Vielleicht ist das falsch, vielleicht trübt es meine Aufmerksamkeit, vielleicht lege ich unangemessene Maßstäbe an. Kann sein. Aber ich lese nicht, um mich zu geißeln. Ich will auch nicht büßen. 1500 Seiten brauchen viel Zeit, Lebenszeit; und Zeit ist das wichtigste, was wir haben. Ich könnte in der Zeit Cello üben, ich könnte Faulkner weiterlesen, ich könnte mit einer Frau schlafen. All das entgeht mir, wenn ich dieses Buch lese, und ich bekomme nur sehr selten etwas dafür zurück, das dem, was ich in der Lesezeit eben nicht tun kann, gleichwertig wäre. Ich muß nicht über die mir bekannte „schlechte Befindlichkeit von Welt“ eigens noch aufgeklärt werden; wenn sie Gegenstand von Kunst ist – das ist sie nahezu immer -, dann erwarte ich, daß mir das >>>> in einer perversen Bewegung herum- und zu Lusterlebnissen aufgedreht wird; genau das kann ja Kunst und fast n u r sie.
Noch ein Zeichen: Während ich bei anderen Autoren, den schon Genannten und weiteren, Szenen in die Erinnerung geradezu gebrannt bekomme, zerfallen sie mir bei Wallace fast schon tagsdrauf. Ich vergesse hier so schnell, was ich gelesen habe. Dabei g i b t es bleibende Szenen, aber sie scheinen von >>>> (Müll)Bergen aus Informationen verschüttet zu werden. Man kann das ganz sicher als Qualität einschätzen, weil es Realität widerspiegelt, man kann sagen: das ist angemessene Gesellschaftskritik. „Ja“, sag ich dann, „aber wozu?“ frag ich dann, wenn ich das a) sowieso schon weiß, es aber b) für mich selbst gar nicht stimmt? Vielleicht nehme ich „Welt“ aber auch nicht so wahr wie andere Leute, vielleicht fehlen mir einfach sagen wir „soziale Verfaßtheiten“, vielleicht bin ich nicht so geprägt worden wie diejenigen Leser (>>>> es sind doch offenbar viele, signifikant viele), die jetzt mit solcher Begeisterung lesen, wenigstens kaufen. D a s ist eigentlich mein Stichwort: das Buch begeistert mich nicht, einzelne Sätze darin begeistern mich, einzelne Passagen, aber das Buch insgesamt prokelt in meinen Begeisterungen herum wie ein mäkelndes Kind auf dem Teller. Es ergreift mich nicht, ich w i l l aber ergriffen werden von Büchern. Man kann mit Recht dagegen einwenden, es sei eben eine Stärke Wallaces, daß er einem >>>> die Phasen des Ergriffenseins immer wieder wegzieht, daß das ja genau die kritische anti-Verführung sei und was dergleichen an poetologischen Überlegungen da immer mit durchschlägt, – aber ich bin kein Masochist und ziehe aus poetischen double binds nicht etwa Genuß, sondern reagiere aggressiv auf sie. Oder mit Ermüdung.
Aber dann wieder kommt sowas wie die Joyce „hommierende“ C- und Poor-Tony-Erzählung… ein ständiges Hin und Her in mir… doch abermals weiß ich nicht, was morgen davon „geblieben“ sein wird. Während ich das bei Faulkner und Pynchon und vielen anderen immer sofort weiß, jedenfalls d a ß etwas bleibt. V i e l bleibt.

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19 Kommentare zu Und d o c h…

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ulrich blumenbach

9. September, 2009 um 11:18

Der Übersetzer verliebt sich fast zwangsläufig in die Bücher, die er übersetzt – übrigens auch ein Selbstschutzmechanismus, denn wer möchte sich schon monate- oder jahrelang nur widerwillig an den Schreibtisch begeben? –, also muss ich aufpassen, „Unendlicher Spaß“ nicht über den grünen Klee zu loben. Zum Glück hab’ ich aber auch ein paar Kritikpünktchen: Natürlich weiß Wallace, was er kann, und stellt es nicht ohne eine gewisse Selbstverliebtheit aus. Natürlich sind manche Passagen überinstrumentiert (sogar die Hardcore-Fans in der amerikanischen Wallace-Newsgroup haben sich vor Jahren darüber aufgeregt, das Wallace Clenettes Monolog mit sämtlichen Elementen des Black American English spickt, statt eine sparsame und damit glaubwürdigere Auswahl zu treffen). Und natürlich scheinen manche Passagen nur auf den schnellen Effekt hin geschriebene Sketche oder Stilübungen zu sein. Ich möchte aber nicht, dass sich, wie es hier in einigen Beiträgen anklang, der Eindruck verfestigt, der Roman bestünde aus unzusammenhängenden Fragmenten. Dann würde er mich wahrscheinlich ähnlich unbefriedigt im Lesesessel hocken lassen wie Sie, verehrter Herr Herbst. Nein, immer wieder wird Material aus früher Erzähltem wieder aufgenommen und sorgt für mein Empfinden für die Rundung, für die ungeheure Plastizität dieser Romanwelt: Der Unfallbericht des Maurers (den ich übrigens nicht nach einer deutschen Version übersetzt habe, weil ich erst bei einer Veranstaltung im Hamburger Literaturhaus von Denis Scheck erfahren habe, dass diese Passage gar nicht von Wallace stammt) mag auf den ersten Blick nur komisch sein, auf den zweiten Blick erzählt er die Vorgeschichte von Dwayne Glynn, der später mit Don Gately in Ennet House zusammenlebt. Die herzzerfetzend schöne Mildred mit dem zwerchfellzerfetzend unglaubwürdigen Nachnamen Bonk mag selber nie wieder auftauchen, ihr Lover Bruce Green wird dafür im Erzählstrang um Randy Lenz um so wichtiger. Die Wildhamsterpassage und die anderen ‚urban legends’ zeigen, dass die Gesellschaft des Romans eine eigene Kosmologie, eine eigene Technologie, eine eigene Geschichte, eigene Riten und Mythen sowie eine eigene Sprache entwickelt hat. Und so weiter.

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Stephan Bender

9. September, 2009 um 12:09

Es mag sein: Aber die Einstellung, mit der ein Leser ein Buch kauft, liest, übersetzt und bewertet, sagt wenig über den Autor aus. Es ist und bleibt das Problem des Konsumenten, ob er er ‚ergriffen‘ oder ‚verbliebt‘ sein will.

Ist es nicht eher so, dass man DFWs Verzweiflung spürt, seine Depressionen, die liebevolle Beschreibung einer kalten Welt, zu der man keinen Zugang hat?

Ist es nicht so, dass die Verzweiflung beim Leser „Brutpflegereflexe“ auslöst, dass man Wallace gewissermaßen adoptieren möchte und gleichzeitig spürt, dass der Mann einfach nicht zu fassen ist? Stellt man sich nicht vor, dass man mit David in einer Bar sitzt, einen Scotch trinkt und dann zu ihm sagt: „Klar bist du unglücklich und depressiv! Aber du warst ein begnadeter Tennisspieler, hast studiert, gehst mit Frauen aus und wirst auch noch als Schriftsteller unserer Zeit gefeiert. Was soll daran schlecht sein?“

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Alban Nikolai Herbst

9. September, 2009 um 14:31

@Ulrich Blumenbach.
Das alles sehe ich auch, das bestreite ich auch nicht. Ich würde mich nie erdreisten, von einem „schlechten“, nicht einmal von einem mittelmäßigen Buch zu sprechen, was ich bei anderen Büchern durchaus schon mal tue und da auch, selbstverständlich, entsprechend zu belegen weiß. Es ist vielmehr so, daß ich im Fall von UF – ich schrieb’s ja auch – wie hin- und hergerissen bin, vieles nervt mich, anderes wieder (ich hab ja schon einige Pasagen bislang genannt) finde ich grandios… aber es sind immer wieder solchermaßen retardierende Passagen da, die vielleicht einfach nur gegen mein Temperament sperrig sind, aber mich eben aus dem Lesefluß hinauswerfen. Dann stelle ich Überlegungen wie die in meinem Beitrag an.
Außerdem, das finde ich an Guido Grafs Projekt spannend, schreibe ich bewußt ungschützt aus dem mehr oder minder unmittelbaren Leseerlebnis heraus, genau das wird protokolliert. Deshalb gibt es hier auch Entwicklung der Lektüreerfahrung oder k a n n sie geben. Ich habe doch noch selbst keinen Schimmer, wohin mich das schließlich führen wird, taste, probiere aus, nehme eine Position ein, verwerfe sie wieder – was alles Prozesse sind, die jeder kennt, der sich mit etwas Unvertrautem vertraut zu machen versucht. Meine Güte, was haben wir bei Hegel gestöhnt, selbst bei dem so klaren Kant, von Heidegger spreche ich gar nicht erst… und wieviel ist von alledem dann schließlich in einem geblieben, „einfach“, weil man diese Verstehens-Arbeit leistete und intensiv leistete. Andererseits ist sowas, auf eine „normale“ Lektüre übertragen (ich als nicht-Berufsleser vorgestellt), eben a u c h ambivalent, da kommt dann mein IchbindochkeinMasochist-Seufzer zum Tragen.
Unterm Strich: Es kann 500 Seiten später durchaus der Fall sein, daß ich, völlig anders als jetzt, vor Begeisterung quietsche, das mag ich überhaupt nicht ausschließen.

P.S.: Daß Sie sich in „Ihren“ Autor verliebt haben, merkt man an vielen Stellen; Übersetzer verlieben sich nahezu immer, so meine Erfahrung, zugunsten der Bücher. Ich finde es wichtig, ich finde es fantastisch, daß das so ist. Und ich käme nie auf den Gedanken, der spricht jetzt „nur“ pro domo. Wenn ich mich mit Ihnen unterhalte, unterhalte ich mich nicht nur in einem „gewissen“ Sinn mit Wallace. Dafür danke.

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Alban Nikolai Herbst

9. September, 2009 um 14:44

@Stephan Bender.
1) „Aber die Einstellung, mit der ein Leser ein Buch kauft, liest, übersetzt und bewertet, sagt wenig über den Autor aus.“ Das ist möglich, aber nicht gesichert. Es kann sein, daß gerade sie viel aussagt. Wir wissen es nicht. Umgekehrt gilt das Argument für jede auch professionelle Kritik, einfach deshalb, weil jeweils Kriterien vorgegeben (internalisiert) sind, die möglicherweise mindestens so weit vom „dem Buch“ (als solchem, was immer das sei) entfernt sind, wie es ein einfaches Geschmacksurteil ist.
Im weiß vom Preis der Schallplattenkritik sehr wohl, was wiederum dabei herauskommt, wenn fünfzig Kritikerstimmen über Qualität „abstimmen; Sie wissen so etwas ganz sicher auch. Gehobenes Mittelmaß, die Gipfel werden weggesägt, die Talsohlen aufgeschüttet.
2) „Ist es nicht eher so, dass man DFWs Verzweiflung spürt, seine Depressionen, die liebevolle Beschreibung einer kalten Welt, zu der man keinen Zugang hat?“ Ja. Aber dazu braucht es nicht so viele Seiten. Um die „mit Recht“ zu füllen, braucht es mehr. Ich suche, aber das ist m e i n Ding, dann immer nach einer Leidenschaft, die sich auf mich überträgt. Bücher bestehen ja mindestens aus zwei Seiten: aus dem Text u n d aus dem Leser.
3) „Ist es nicht so, dass die Verzweiflung beim Leser “Brutpflegereflexe” auslöst“ – Bei mir überhaupt nicht. Eher im Gegenteil. Das ist mir nun ganz fern. Mir, bitte, ich verallgemeinere das nicht. (Ich überleg grad, ob ich überhaupt je so einen Brutpflegereflex bei Literatur hatte? Hm, vielleicht bei jungen Autoren, die mir anvertraut waren und ja immer noch sind. Da ja. Da geht es aber um etwas anderes: wie schütze ich deren wirkliche Freude, Not, Wut usw. davor, aufgrund unbedachter Formulierungen einer allgemeinen Häme ausgesetzt werden.)

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Jürgen Kiel

9. September, 2009 um 15:51

@Alban Nikolai Herbst.
Ich teile Ihre ambivalente Leseerfahrung und die auch Tendenz, sie nicht in negative Kritik am Buch zu formulieren. Da ist irgendwo ein Unvermögen im Text, etwas zu erzeugen, was manch bescheidenerer Autor in seinen besseren Momenten zu erzeugen in der Lage ist. Vielleicht geht es um jene Tiefe, die entsteht, wenn ein Text jene präzise Offenheit aufweist, die den Leser gleichzeitig einlädt und mit sanfter Hand steuert.

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Stephan Bender

9. September, 2009 um 15:55

@ Alban Nikolai Herbst,

… das wird jetzt kompliziert:; Hypothese: „Unterhaltung ist Depression!“

1) Ich bin der Meinung, dass man den Autor mit der Erwartungshaltung seiner Konsumenten in Ruhe lassen sollte. Ein Roman ist kein Kühlschrank oder ein Auto, bei dem man Support anbietet. Ich berufe mich dabei auf Schwitters (oder war es Jandl?), das „Kunst von Können und nicht vom Wollen“, kommt, „sonst hieße sie ja auch Wunst.“ Dann haben wir auch solche Ausreißer wie „Ich bin dann mal feucht“, deren Erfolg ausschließlich auf der Erwartungshaltung des Lesers beruht. Wenn man die Leser fragt, warum sie das lesen, antworten sie, weil alle das lesen. Auch gut…

Andererseits, und da haben Sie völlig recht, diese Nivellierung von Gipfeln und Talsohlen ist schrecklich, weil sie an herausragender Kunst gar nichts mehr hervorbringt.

2) Leidenschaft „ergreift“ einen oder nicht, die kann man nicht einfordern. Ein Buch besteht auch nicht aus zwei Seiten, sondern bestenfalls aus einer gut erzählten Story, und der Story ist es völlig egal, ob der Leser sie sucht. So viel Sachlichkeit muss bleiben…

3) Also bei mir ergreift der Wallace Brutpflegereflexe, weil mir klar geworden ist, wonach mein „Bruder im Geiste“ sucht und warum er das alles geschrieben hat. Das werde ich allerdings hier nicht ausbreiten, weil ich genau zu der Sorte gehöre, die aufgrund von Wut, Not Freude unbedachte Formulierungen sich einer allgemeinen Häme aussetzen – auch wenn Sie oft Jahre später recht bekommen. Das Sie sich um junge Autoren kümmern, finde ich gut – Respekt!

P.S. Neulich hat mir doch eine 21jährige, angehende Ärztin in Berlin allen Ernstes vorgeworfen, „ich sei mit mir im Reinen“. Auf meine Entgegnung, ich schließlich kein Geschirrtuch, dass man mit ‚Ariel‘ bei 60 Grad im Hauptwaschgang gewaschen hätte, meinte sie, das sei ihr schon klar. Was ist das für ein Zustand, bei dem man nicht mal ungestraft „nicht nur sauber, sondern rein“ sein darf – Wäschestücke aber schon? Wer von den Autoren schreibt eigentlich die europäische Version von „Infinite Jest“?

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Alban Nikolai Herbst

9. September, 2009 um 21:14

@Stephan Bender.
Das ist eine mir sehr sympathische Entgegnung, weil sie fair ist und klug positioniert. Klar soll man das Kunstwerk mit der Erwartungshaltung in Ruhe lassen, aber: sie ist ja da, und zwar in mir durchaus nicht als in einem Leser, der sich vor Anstrengung scheut. Ich habe das versucht, anders auszudrücken, jetzt dreh ich’s nochmal und bewußt ins tatsächlich Komische: Nicht jeder ist für dieselbe Art von erotischer Ausstrahlung empfänglich. Ich etwa fahre auf arrogante Zicken ab, was mein Liebesleben ein bißchen kompliziert macht.
Ich bin, wie Sie vielleicht aus meinen bisher wenigen anderen Beiträgen gemerkt haben, überhaupt kein Story-Leser; der „Plot“ interessiert mich fast immer zuletzt- was wahrscheinlich mit meiner (E-)musikalischen Ausrichtung zu tun hat. Aber es gibt eben auch einen Sex der Form. Wenn der ausgestrahlt wird und dann kommt noch ein Plot hinzu, der mich packt, dann bin ich verloren. Ich suche dieses Verlorengehen, überkontrolliert bin ich selbst.

Zu 3) Vielleicht haben wir einander so angezackert, weil da ein bißchen was zu Ähnliches ist. Fiel mir nur eben beim zweiten Lesen auf.

Meinen Sie wirklich, es müsse jemand von irgendwas eine zweite Version schreiben? Eine akzeptable zweite Version ist Blumenbachs Arbeit eh schon, die sich sicher vom Original unterscheidet. Ich kann englisch konversieren, so blabla, aber traue mir nicht zu, mit angemessenem Verständnis ein englischsprachiges Buch zu lesen; also kann ich’s nicht „kontrollieren“. (Seit meiner Japanzeit zweifle ich an der prinzipiellen Möglichkeit von Übersetzungen, die auch nur ungefähr ein Original wiedergeben, aber das ist eine andere Diskussion.) Auch bin ich in einer ziemlich anderen kulturellen (Selbst-)Codierung aufgewachsen als die meisten meiner Generation.

P.S.: Reinheit, >>>> hat Fichte zu Irene gesagt, sei der schlimmste Begriff in der ganzen Geschichte der Menschheit.

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Stephan Bender

10. September, 2009 um 11:40

@ Alban Nikolai Herbst:

Es geht nicht um eine zweite Version, sondern um eine deutsche oder europäische Version: Ich lese aus US auch eine Menge Gesellschaftskritik heraus. Tennis, Drogen, Promotion, der Einfluss der Eltern auf das Leben ihrer Kinder, Sex, Liebe – das sind ja alles Bausteine unserer Gesellschaft, die Wallace sehr anschaulich beschreibt, in dem er eine amerikanische Freakshow beschreibt.

Ich habe nie etwas wirklich Kluges über die Wiedervereinigung gelesen, über den europäischen Gedanken, nie etwas über das Gelingen/Misslingen der Wiederverinigung oder über den überbordenenden Kapitalismus, bei dem Familien am Sonntag statt in die Kirche in ein ein Shoppingcenter gehen und dort Erfüllung suchen. Vor allem vermisse ich jegliches gesellschaftliches Interesse daran, sowohl bei den Herrschenden als auch bei den Betroffenen.

Und das ist wahrscheinlich schon die direkte Folge der (Unendlicher-) Spaß-Gesellschaft: Es ist obsolet geworden, sich überhaupt mit gesellschaftlichen Missständen auseinanderzusetzen.

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Alban Nikolai Herbst

10. September, 2009 um 14:26

@Stephan Bender.
Ein bißchen blöd für mich, darauf zu antworten, also daß Ihre Erwartung ausgerechnet gegenüber mir geäußert wird. Es zeigt, daß Sie meinen Anderswelt-Zyklus nicht kennen, von dem immerhin zwei Romane erschienen sind; ihn nicht zu kennen, ist nicht schlimm, kaum jemand außerhalb eines leider ganz gut definierbaren Rahmens kennt ihn; auf die Gründe mag ich hier nicht eingehen, gehört einfach nicht hierher. Aber >>>> Thetis etwa hat Europa mitten ins Zentrum genommen, es spielt in einem nach dem Fall der Mauer, die hier wieder errichtet wird, synthetisierten Berlin, das aber anders heißt. Simulation, Gleichzeitigkeit, Entfremdung, Rückkehr- und Überbrückungsversuche, Popularmythen usw.; alles da. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht hat die Literaturzeitschrift die horen im vergangenen Jahr über das Projekt einen ganzen Band herausgegeben, über den denn auch nicht geschrieben worden ist oder nur am äußersten Rand der Wahrnehmungsschwellen. Wie gesagt, hat alles Gründe. Guido Graf, übrigens, hat über Thetis geschrieben; auch er bekam da, was ich vorsichtig „Gründe“ nenne, durchaus zu spüren.

Doch dann. Die fast orgiastische (und perverse) Stimmung nach dem Mauerfall hat, so weit ich’s überschaue, keiner so peotisch deutlich verarbeitet wie Thomas Hettche in Nox. Auch er ist – dort – zugleich ästhetisch völlig auf der Höhe und fällt nicht in den „Realismus“ zurück, der neuerdings so im Schwange ist und dem man, wenn man ihn dennoch nicht ganz abstreifen will, mit Massierung begegnen muß, collagierten Momenten, Simultanitäten und Verfremdung – ganz wie Wallace das tut. Politisch wiederum in einem nicht-deutschen Sinn ist Elfriede Jelinek und auch sie auf ästhetisch hohem Niveau. Es geht bei eingeforderter Kritik ja nicht darum, daß einem die Kritik auch gefällt; wahrscheinlich wär’s dann keine mehr, sondern Bestätigung der Selbstbestätigung des Lesers. Auch sie hat nicht nur den Plot im Sinn. Weiterhin ist sicher Wolfgang Hilbig zu nennen. Während es Bearbeitungen der jüngsten europäischen Geschichte a l s Plot sogar zuhauf gibt, immer mehr oder minder mit ausgeprägtem ästhetischen Regreß zugunsten eines Entertainments verbunden, das vorerzeugte Bedürfnisse befriedigt.
Auch über Familienmuster und -strukturen, Verhängnisse also, gibt es massenhaft Bücher, „mein Vater“ war sogar mal ein Topos hierzulande, so in den frühen Neunzigern, erinner ich mich; übelstes Folgeerzeugnis ist jüngst das Walter-Jens-Buch seines Sohnes, gewissermaßen ein zu spät und erst dann nachgeholter symbolischer Vatermord, als nichts mehr zu riskieren war; so bleibt die Reife denn auch aus.

Nein, daß es obsolet geworden sei, sich mit Mißständen auseinanderzusetzen, sehe ich nicht. Es ist nicht einmal obsolet geworden, sie zum Material eines Kunstwerks zu machen. Einige deutschsprachige Gegenwartsautoren tun es immer wieder; wo sie sich dabei aber nicht unter den Produktwillen beugen, wie es die „main players“ des Betriebes tun, hört man folgerichtigerweise auch wenig von ihnen. Wiederum, wenn Autoren anfangen, sich einen (politischen) Platz der Mitte einzufordern, der Einordnung schon voraussetzt, entgleitet ihnen die Ästhetik; sie fallen dann in die Rolle eines Neo-Lakaien zurück und sind bei Bundeskanzlers gerne zum Essen gesehen. Da haben Sie, Herr Bender, schon recht.

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Stephan Bender

10. September, 2009 um 20:13

@ Alban Nikolai Herbst

Simme Ihnen zu. Und um die ganze Diskussion mal abzurunden: Natürlich sind deutsche Autoren nicht primär daran schuld, wenn der Leser in einem neurotischen Wahnsinnsanfall von kindlicher Regression plötzlich Kleine-Jungs-Literatur wie „Ich bin dann mal weg“ oder die Entdeckung des weiblichen Körpers wie „Feuchtgebiete“ konsumiert. Das kann natürlich eine posttraumatische Reaktion auf die Wiedervereinigung und auch den 11. September sein, denn in den USA hat es unter intelligenten Menschen ähnlich irrwitzige Reaktionen gegeben. Deswegen ist ja DFW so interessant, weil sich von dieser ganzen Stimmung hat nicht beeinflussen lassen, sondern sich dem Spaß- und Medienwahnsinn gestellt hat, der heute unser Leben tatsächlich stark beeinflusst.

Ich will auf etwas ganz anderes hinaus: Wir hatten neulich die schöne Diskussion, warum in der heutigen Gesellschaft der Terrorist als Feindbild der einzige, gesellschaftlich akzeptierte Widersacher der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Und Lou meinte, wir wären vielleicht „nie modern gewesen“, insofern wäre die Postmoderne als Begriff vielleicht auch Quatsch. Und es könnte sein, so Lou, dass Pu, der Bär, vielleicht der liebe Gott sei – bekanntlich ein Tier „von sehr geringem Verstand“.

Wenn wir morgen feststellen würden, dass es politische Bestrebungen gibt, einen Zustand herzustellen, wie er gewissermaßen vor (!) 1933 geherrscht hat, (also ohne NS-Zeit, Krieg, Teilung und Wiedervereinigung), und wir dieses Jahrhundert 1933-2033 de facto als historischen Irrtum ausfallen lassen würden – würden wir das wollen? Es würde, um mal einen Gedanken von DFW aufzugreifen, „das Gefühl“ erklären, dass wir und als Autor, als Leser und sonstige Vasallen der europäischen Gesellschaft ständig im Irrtum sind. Ein aberwitziger Gedanke, aber ein guter Gedanke!

Wo bliebe dann die Moderne als Lebensgefühl?

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Guido Graf

10. September, 2009 um 20:22

Joyce

In einem Brief vom März 1996 schreibt Wallace:

My parents are both academics and are hugely into Joyce. I remember them reading Ulysses aloud to each other in bed on wintter nights – rather a nerdy childhood memory, I know, but a sweet one. I read Portrait and U and Dubliners with my Mom one summer when I was in college; it was like being drunk for 3 months straight w/o a hangover. I don’t know if I’ve read FW or not – my eyes have passed over most of the words, but basically I can’t make heads or tails of it.

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ulrich blumenbach

10. September, 2009 um 23:00

@Guido Graf: „I read Portrait and U and Dubliners with my Mom one summer when I was in college; it was like being drunk for 3 months straight w/o a hangover.”

Und so ein Rausch hinterlässt Spuren: Das „scrotum-tightening“ (IJ, S. 112 und erneut 605) bzw. „skrotumzusammenziehend“ (US, S. 161 und 873) ist direktes Joyce- bzw. Wollschläger-Zitat; wenn aus „metempsychosis“ (Seelenwanderung) „Madame Psychosis“ wird, spielt das auch auf Molly Blooms sinnergänzenden Hörfehler „met him pike hoses“ an, und meiner Meinung nach alludiert auch das „tang of urine“ (IJ, S. 69) auf Leopold Bloom, der mit Vorliebe „grilled mutton kidneys which gave to his palate a fine tang of faintly scented urine“ aß – hier musste aus Wollschlägers „Beigeschmack schwachduftigen Urins“ allerdings ein „leichte[s] und unverwechselbare[s] Urinodeur“ (US, S. 100) werden, weil man in der Umkleide nicht schmeckt, sondern schnuppert.

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Lou

10. September, 2009 um 23:27

1933-2033, Jahrhundert des historischen Irrtums: 10.09. J.d.h.I.

Es ausfallen lassen. Das gefällt mir ungemein, es könnte ein Ziel sein. Wir fallen dann aktiv mit aus, was unserer Modernität einen „unaufhaltsamen Aufstieg“ verleihen würde.

Es ist, denke ich, genau das – uns affiziert, egal, ob in jeder Zeile des Buches oder in einzelnen Passagen und egal, ob wir überlegen müssen weiter zu lesen oder ob das Lesen sich sui generis ergibt, die konzentriert gelebte(sic) Ohnmacht von DFW vor dem, was im 20./21. Jahrhundert das Ich zum Anderen macht. (Denn die Moderne hat neue Formen angenommen): „My parents are hugley into Joyce.“ Das ist die Suche, hugely into – was, worin?
Ja, wir wollen „ergriffen werden“, richtig – aber warum? Weil sich etwas abspielt zwischen Jim und (s)einem Vater, was André Gorz als »Verräter« in der Reflexion auf die Frage nach dem Schreiben vielleicht umrissen hat:

„Für einige, die nicht ignorieren können, dass sie einen endgültigen Riss haben; etwas, das in ihrem Leben geschehen ist, macht es ihnen unmöglich, sich hin der Realität der Gestalt wiederzuerkennen, die ihre Handlungen entwerfen. Etwas, das in ihrem Leben geschehen ist, oder ihr Leben selbst, dieses Leben hier, aufgrund dessen wir alle unvollständige Individuen sind, unfähig, das, was wir sein können, zu akzeptieren, unangepasst an unsere Wirklichkeit, von Bedürfnissen verzehrt, die diese Zivilisation nicht zu befriedigen vermag. Wir sind alle potenzielle Verräter: Jeder von uns Kleinbürgern verrät diese Gesellschaft in seinen Träumen, verachetet seine Mitmenschen, verleugnet, in einem nächtlichen Teil seiner selbst, seine Tageswirklichkeit. Was wird uns geboten? Ein dürftiges, eng spezialisiertes Leben innerhalb eines Unternehmens, das uns übersteigt und sich selbst nicht kennt. […]. Und so bemisst diese Gesellschaft den Erfolg eines Individuums nach der Zahl und der Kraft der Mittel, die es erwirbt, um die Gemeinschaft fernzuhalten, dem gemeinsamen Schicksal zu entrinnen, sich zu isolieren und sich von allem abzusondern, um sich ein Gehäuse gegen die Welt zu bauen: Auto, Haus, Komfort,… – „Illusionen,, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.“

Eine andere Situation (ich weiß es …) und dennoch – auch André Gorz hat den Freitod gewählt! Und das expressis verbis in Referenz an George Bataille: „Ich will nicht mehr »das Leben auf später verschieben«.“

Vielleicht ist es dieser „Riss“, der uns hugely into US treibt. In Gänze oder in Teilen. Je nachdem.

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Alban Nikolai Herbst

11. September, 2009 um 08:20

Lieber Stephan Bender,
das hätten wir gern, es als historischen Irrtum ausfallen zu lassen; nur war es kein Irrtum, sondern ein – sehr wahrscheinlich unabkehrbares – Ergebnis; was wiederum einiges über die Jahrzehnte n a c h 2033 aussagen wird: mehr, hab ich das Gefühl, als man je zuvor über etwas Kommendes sagen/vermuten konnte. Dazu gehört gerade, daß versucht wird, den Irrtum-als-Irrtum herzustellen. Berlin ist dafür d a s architektonische Beispiel (weshalb es sich für >>>> Thetis so anbot, nicht etwa aus LiebezurStadt oder einer sonstigen Sentimentalität, die ich im übrigen durchaus und gerne pflege); die Art und Weise, in der hierzustadt Vergangenheit ausgelöscht zu werden versucht wird, ist eklatant und ein symbolisches Material für „Gegenwartsentwürfe“, das geradezu nach Bearbeitung schreit. Pouh der Bär hilft uns da nicht weiter, sondern verklärt sogar noch die Vorgänge zum Diminutiv.
Im übrigen erinnert mich das Geschehen an die italienische Kunstgeschichte, die es fertiggebracht hat, eintausend Jahre glatt aus der Betrachtung herauszunehmen, so daß man vom Seicento spricht, wenn, nach italienischer kardinalrechnungsart, das 16., nach unserer das 17. Jahrhundert gemeint ist.
Daß wir „nie modern gewesen“ sind, mal generell ohne Betracht von Einzelpersonen, halte ich, nebenbei bemerkt, für überaus ausgemacht. Die Widerkehr der Mythen, meist in trivialisierter Form, in der Unterhaltungsindustrie ist ein Zeichen dafür; das reicht bis in den Umstand hinein, daß hackers ihre Viren gern nach Dämonen benamsen. >>>> Hier habe ich bereits im Jahre 2000 auch darüber geschrieben und poetologische Thesen dazu aufgestellt. Der im Schreibheft ersterschienene Essay ist frei herunterladbar.

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Stephan Bender

11. September, 2009 um 11:21

@ Alban Nikolai Herbst @ Lou:

Muss hier gegenhalten…

Alban, alles was Sie sagen, ist vollkommen richtig, aber dergestalt, dass man kaum widersprechen kann. Das Hacker ihre Viren nach Dämonen benennen, ist mir auch schon aufgefallen, aber Informatiker sind keine Intellektuellen. Und gegen die Wiederkehr der Mythen ist auch nichts einzuwenden, wenn es keine Uralt-Mythen, sondern moderne Mythen wären. Beim Irrtum-vom-Irrtum gehe ich auch mit, aber warum schreit keiner auf, wenn Geschichte durch organisatorischen Unsinn ersetzt wird? Und wird man als Autor wirklich gehört, wenn man Beeindruckendes durch noch Beeindruckenderes ersetzt, ohne selbst als verletzliche Seele darin vorzukommen?

Lou, André Gorz war offenbar 84, als er sich das Leben nahm, das ist dann doch eine andere Liga. Der Text allerdings ist richtig und beschreibt den Verlust an sogenannter Identität. Diese Passage mit Joyce, in dem sich die Eltern von DFW genüsslich suhlen, ist eine Flucht aus der Realität wie alle anderen religiösen Rituale, zu denen der Mensch in den schwachen Stunden seines Lebens neigt, wie auch zum Kinderkriegen, Auto kaufen, Häuschen bauen oder Aktien einer wildfremden, politisch inkorrekten Firma kaufen. Der „Riss“, der uns in die Intellektualität treibt, hat auch viel mit Inakzeptanz des Menschen zu tun, sich selbst zu verändern. Seinen Kinder z.B. „etwas bieten zu wollen“, hat nichts mit ideologischer Untreue zu tun.

Daher bleibe ich dabei und insistiere im Sinne eines deutschen oder europäischen „Infinite Jest“-Romans Folgendes: DFW hat wunderbar beschrieben, wie sich „das Gefühl“ einer bedingungslosen Leistungsgesellschaft auf die Seele eines Menschen auswirkt, aber es ist eine amerikanische Version „des Gefühls“. Es ist eben die Neue Welt halt.
Hat „das Gefühl“ als Europäer, eines Bewohners der Alten Welt, vielleicht wirklich mit der Geschichte 1933-2033 zu tun dergestalt, dass wir uns ununterbrochen unwillkürlich für Dinge entschuldigen müssen, die wir weder gewollt, noch verbrochen haben, deren Protagonisten und Opfer uns aber durch ihre Existenz andauernd daran erinnern und uns auch noch die Unbefangenheit neiden, mit der wir solche Probleme wie „Konsum oder Nichtkonsum, das ist hier die Frage!“ diskutieren. Anders gesagt: Sind wir die Opfer einer Geschichte, die wir nicht wollen? Dürfen wir den Zeitraum 1933-2033 einfach ausblenden?

Was würde aus dem Moderne-Begriff? Was zum Teufel ist Moderne überhaupt? War sie selbst ein Film, der uns zu „sabbernden Gemüse“ werden ließ?

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Alban Nikolai Herbst

11. September, 2009 um 12:40

Zu Benders „dass wir uns ununterbrochen unwillkürlich für Dinge entschuldigen müssen, die wir weder gewollt, noch verbrochen haben“:
Genau da liegt eines der Grund-„Probleme“, die „wir“ haben, bewußt oder unbewußt, die aber zugleich auf den diplomatischen Parketts ständig als ein Anspruch an „uns“ mitverhandelt und auch ausgespielt werden; oft spielen „wir“ sie selber aus. Interessanterweise wird ein solcher Anspruch gegenüber den USA, bei denen sogar die Nationalbildung auf einem Völkermord beruht – allerdings keinem nach quasi-industriellem „Verfahren“ – n i c h t erhoben. In einem kleinen Essay, der mir dann prompt den Vorwurf eintrug, ein „Neurechter“ zu sein, formulierte ich so: Kulturverrat ist in der Tat ein ganz besonders deutsches Thema. Er hat viel mit Verdrängung zu tun. Ich erinnere mich gut der 60er, als wir lieber „I love you“ als „Ich liebe dich“ sagten. Fürs Innerste mußte man in Deutschland seine Sprache verleugnen – und wie immer bot sich ein Sieger an, hier der letztliche Sieger, der mit Persilscheinen die Größen der Nazi-Wissenschaften zum eigenen Aufbau heimgeholt hat. (…) Man hat uns die Seele durch die Äquivalenzform ersetzt und findet die fremde Sprache schöner (und „wahrer“) als die eigene.An anderer Stelle hab ich davon gesprochen, daß unterdessen fast drei Generationen nicht als Deutsche, geschweige als Europäer, sondern als US-Amerikaner aufgewachsen seien. Man konnte das bei Obamas deutschem Auftritt gut beobachten; es war, als würde der Mann u n s e r Präsident.

Mythen: Ich finde nichts dagegen einzuwenden, daß es Uralt-Mythen sind; genau deshalb s i n d sie ja Mythen. Mythen realisieren sich immer wieder neu, nie identisch übrigens, sondern immer ähnlich. Allenfalls wäre einzuwenden, daß keine neuen hinzukommen; damit schlösse sich aber der kleine Kreis des „wir waren nie modern“. Mythen sind notwendigerweise vorgeschichtlich, deshalb haben sie dieses Zeitlose, das man als einen Passepartout, das man aber auch als etwas Substanzielles ansehen kann. Aber ‚tschuldigung, ich riskiere grad ein berechtigtes Themaverfehlt.

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Stephan Bender

11. September, 2009 um 14:12

@ Alban Nikolai Herbst:

Also, lieber Alban, ich habe mich gerade ein wenig über Sie im Netz eingelesen und mir ihre Grundmotivation klar gemacht, und ich halte Sie für einen hochsympathischen Typen. Aber für „das da oben“ muss ich Sie verbal jetzt ein wenig verdreschen. :-)

1. Ersten gibt es kein „wir“. Diese verbale Geiselnahme verbitte ich mir!
2. Wenn Sie Deutschland meinen, müssen Sie sagen, ob sie die deutsche Bevölkerung oder den den deutschen Staat als Machtinstrument meinen.
3. „Kulturverrat“ ist einer der dämlichsten und blödesten Begriffe, den man, (wenn man nicht gerade Franzose ist und die schlechte Qualität des Weines oder des Roquefort bemängelt), gerade als Deutscher tunlichst unterlassen sollte, wenn man nicht explizit angibt, welche Art von Kultur man meint.
4. Wenn Sie tatsächlich – bei aller Sympathie – öffentlich in einem Anfall von unfassbar grausamer Dämlichkeit die Vertreibung der Indianer mit dem Holocoust gleichgesetzt haben, dann sind sie nun mal ein „Neurechter“. Darüber kann man nicht ernsthaft diskutieren. Außerdem ist mir nicht bekannt, das beide Opfergruppen eine internationale Konferenz abgehalten hätten, in dem sie ihr ädaquates Schicksal angeprangert hätten.
5. Wenn die Amerikaner nicht gewesen wären, würde ich heute nicht in Deutschland, nicht in dieser wunderschönen Stadt Berlin leben. Ich habe eine amerikanische Flagge zu Hause und bin mit dieser zu Barack Obamas Rede gegangen. Ich trinke Cola und trage Jeans, mein Laptop ist von IBM und mein Betriebssystem von Microsoft, das Internet ist eine amerikanische Erfindung und die Startseite ist ‚Google‘. Autos und Pharmaka kaufe ich am liebsten aus deutscher Produktion, da sind die wirklich besser.
6. Dass deutsche Intellektuelle und Ingenieure immer Spitze waren, bestreitet niemand, das Streichhölzer nicht in Kinderhände gehören, hoffentlich auch nicht.
7. Mythen sind eine Bedingung der ‚condition humaine‘, der immer wiederkehrenden Menschheitsgeschichte in einer Generation. Einer großen Mythen der jüngeren Menschheitsgeschichte ist, dass das 20. Jahrhundert ein „deutsches“ Jahrhundert hätte werden müssen, aber die Deutschen haben es nun mal vermasselt. (Daher kommt auch ihre Trauer, Alban.) Statt dessen wurde es ein amerikanisches Jahrhundert. Das 21. Jahrhundert wird vermutlich ein chinesisches Jahrhundert, und jetzt schon diskutiert die Welt die Vertreibung der Uiguren durch die Han-Chinesen.

Wenn Sie, lieber Alban Nikolai Herbst, sich mal Ihrer berechtigten Trauer über Vergangenes, Deutsches, Kulturverlustiges stellen würden, wäre das ein wirklich guter Beitrag. Gegen die Vergangenheit andiskutieren ist selten sinnvoll, aber was ein Deutscher an Deutschem konkret in Deutschland vermisst, fände ich wahnsinnig interessant.

Pessimisten blicken düster in die Zukunft und sind Optimisten, was die Vergangenheit angeht.
Das würde ich nicht auf mir sitzen lassen… :-)

St.B.

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Guido Graf

11. September, 2009 um 14:58

und an dieser Stelle bitte ich, die Diskussion andernorts weiterzuführen, ok?

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Alban Nikolai Herbst

11. September, 2009 um 15:28

@Guido Graf: Aye, aye, Sir! (Sowieso auflachend, nachdem ich da offenbar in ein irres Nest von Projektionen und unbegriffener Abwehr gepiekst habe, siehe „die V e r t r e i b u n g“! Bender reagiert so, wie ich es vorher schrieb: wie ein US-Amerikaner, nicht wie ein Europäer. Weh über die Sozialisation!)

Ich bitte, dies hier nicht wegzuzensieren, weil Bender den Vorwurf explizit wiederholt, ich sei ein Neurechter. Das will ich aus seiner „Feder“ so dann auch schriftlich fixiert haben. Ich habe die Site für alle Fälle gescannt.

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